Der Panorama-Radweg namens „Balkantrasse“, der vom Rhein in Leverkusen-Rheindorf ausgeht und bis nach Wuppertal hinauf führt, ist unsere neueste Entdeckung. Die Strecke ist insgesamt 51 km lang. Das ist für unsere Verhältnisse zu viel für einen Tag. Mit den E-Bikes können wir die Kilometerzahl zwar ohne besondere Anstrengung meistern, aber erstens wollen wir uns ja auch anstrengen und schalten nicht immer die bequemste Powerstufe ein, zweitens können wir nach etwa 35 km nicht mehr wirklich schmerzfrei auf unseren Satteln sitzen. Hinzu kommt, dass sich die Balkantrasse nicht als Rundweg gestalten lässt. Das heißt, man muss die selbe Strecke auch wieder zurück fahren. Wir entscheiden also, die Balkantrasse in drei Etappen anzugehen.
Wir entdecken die Tour bei Outdooractive. Der Name „Balkantrasse“ hat uns gleich fasziniert. Er verspricht exotische Urlaubserlebnisse in den reisearmen Zeiten von Corona. Ursprünglich fuhr auf dieser stillgelegten Bahntrasse ein Zug, der sich „Balkanexpress“ nannte. Wir freuen uns auf eine hindernisfreie Fahrt ohne Ampeln und ohne Autoverkehr. Heute sieht der Himmel zwar sehr verhangen aus und für den Nachmittag sind sogar Schauer angekündigt, das schreckt uns aber nicht. Wir wollen auf jeden Fall die erste Etappe von Leverkusen-Rheindorf bis Burscheid und zurück heute erkunden. Mit dem Auto transportieren wir uns und unsere Räder in einer viertelstündigen Fahrt zum Startpunkt am Rhein. Wir geben in unseren Navi die Adresse des Restaurants Villa Knöterich ein, bei der genau die Route startet. Unterstraße 2, 51371 Leverkusen.
Direkt gegenüber dem Restaurant stellen wir den Wagen ab und heben unsere Räder vom Gepäckträger. Wir sind inzwischen so geübt, dass wir nur eine Minute brauchen bis wir abfahrbereit sind. Auf einem Damm neben der Unterstraße sehen wir schon einen Strom von Radfahrern vorbeigleiten. Das muss wohl die Balkantrasse sein, denken wir. Aber weit gefehlt. Die eigentliche Eisenbahntrasse beginnt erst in Leverkusen-Opladen. Der Panorama-Radweg beginnt allerdings genau hier auf dem Damm, der die Wupper säumt und einen prächtigen Blick auf die fruchtbare Flussauenlandschaft bietet. Leider dauert es nicht lange bis der Radweg die Wupper verlässt und auf verschiedenen Straßen weitergeht. Mit dem Westring überqueren wir schließlich die Wupper nach einer Rechtskurve.
Unmittelbar nach der Brücke biegen wir links ab. Zuerst machen wir den Fehler und folgen der Rheindorfer Straße. Wir kehren noch einmal um und entdecken jetzt den schmalen Weg, der wieder ans Ufer der Wupper zurückführt. Die Wupper teilt sich hier und der Radweg verläuft auf einem schmalen Damm parallel zu dem Seitenarm des Flusses. Wir durchfahren eine flache Wiesenlandschaft mit Pferden sowie kleine Wäldchen und folgen dabei immer dem Seitenarm der Wupper.
Schließlich entfernt sich der Radweg von der Wupper und quert die A3, nach er es links auf der Bonner Straße weitergeht. Wo die Bonner Straße nach rechts abknickt, folgen wir ihr nur noch wenige Meter und biegen dann links auf einen Radweg, der wieder ans Ufer der Wupper führt. Bald erreichen wir den Ludwig-Rehbock-Park mit einem großen Teich, den eine hohe Fontäne ziert.
Am Ende des Parks weist unsere aus dem Internet ausgedruckte Karte nach rechts. Wir sind uns unschlüssig, wo der Weg weitergeht. Da hält neben uns eine Dame im motorisierten Rollstuhl und fragt, ob sie uns helfen könne. Wir erklären ihr, dass wir den Panorama-Radweg Balkantrasse fahren und momentan nicht wissen, wo es weitergeht. Sie winkt gleich ab und teilt uns mit, dass die Balkantrasse doch erst am Bahnhof in Opladen beginne. Dahin kämen wir folgendermaßen. Sie beschreibt einen komplizierten Weg, der uns am Ende serpentinenartig hinaufbringen würde zum Bahnhof. Dort müssten wir noch die Gleise überqueren und zum Bahnhofparkplatz fahren. Dahinter beginne die Balkantrasse. Wir bedanken uns sehr freundlich und folgen ihren Hinweisen, obwohl das ganz und gar nicht dem Plan auf unserer Karte entspricht. Da sie uns aber mit ihrem Rollstuhl eine Weile lang begleitet, möchten wir nicht so unhöflich sein und ihre Hinweise in den Wind schlagen. So passiert es leider, dass wir den richtigen Weg verfehlen und in die Irre gelangen.
Der falsche Weg lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Auf jeden Fall kommen wir irgendwann an einem Freibad vorbei. Das muss das Hallen- und Freibad Wiembachtal sein. Danach geht es auf einem Rad- und Wanderweg weiter, vorbei an einer Schafweide und über ein Brückchen in eine große Rechtskurve. Wir bleiben noch einmal ratlos stehen. Spätestens hier sehen wir, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind. Schon sprechen uns wieder freundliche Menschen an und fragen, ob sie uns helfen können. Ein Ehepaar auf Rädern. Als wir die Balkantrasse erwähnen, meint sie, da sollten wir am besten wieder zurück fahren. Er aber glaubt, das sei für uns viel zu weit, ein zu großer Umweg. Er rät uns, jetzt gleich auf dem sehr schmalen, kaum befahrbaren Weg in den Wald nach links abzubiegen. Da würden wir schließlich auf eine Straße stoßen. Der sollen wir nach links folgen bis hin zu einer Unterführung der Bahntrasse. Dort irgendwo gebe es eine Auffahrt auf die Balkantrasse. Wir bedanken uns und folgen seinem Tipp.
Der unwegsame Pfad führt am Ölbach entlang und stößt schließlich auf die Neukronenberger Straße. Dort fahren wir nach links und erreichen nach wenigen Metern eine T-Kreuzung. Wieder halten wir ratlos an. Ein Herr, der gerade vorübergeht, fragt, ob er uns helfen könne. Er schickt uns nach links und erklärt, dass dort die Auffahrt auf die Balkantrasse zu finden sei. Wir freuen uns sehr über so viel Hilfsbereitschaft im Bergischen Land und erreichen schon bald die Unterführung, von der das Radler-Ehepaar gesprochen hatte.
Zuerst fahren wir durch die Unterführung hindurch, um schnell festzustellen, dass das auch wieder falsch war. Wir kehren um und begegnen wieder dem Spaziergänger. Er zeigt nur stumm in die Richtung, die wir hätten nehmen müssen, nämlich parallel zur Trasse weiter geradeaus. In einem großen Rechtsbogen hebt uns die Straße auf die Balkantrasse hinauf.
Hier nun endlich beginnt unsere paradiesische Fahrt. Die glatte Asphaltdecke ohne Wurzeln führt uns wie ein roter Faden. Wir müssen nicht einmal mehr in unsere Karte schauen. Am Wegesrand tauchen in regelmäßigen Abständen Hinweisschilder auf, die anzeigen, wo wir gerade sind oder wo wir schön einkehren können. Von Zeit zu Zeit sehen wir auch einen Hinweis auf eine ehemalige Haltestelle des Balkanexpress. Wir gleiten nur so dahin und lassen die Blicke schweifen. Es geht vorüber an Wiesen und Wäldern, an Häusern auch einmal. Es fällt auf, dass es kontinuierlich bergauf geht. Wir ahnen uns in die Vergangenheit hinein, in das mühsame Stampfen und Schnaufen der Dampflokomotive, die sich immer höher hinaufarbeiten muss ins Oberbergische.
Die Trasse hat alle Hindernisse beseitigt, um der Eisenbahn freie Fahrt zu gewähren. Die Radstrecke überquert unzählige kleine Straße, Landstraßen, Autobahnen und Flüsse auf vielfältigen Brückenkontruktionen. Wo nicht hinübergeführt werden kann, wird unterführt. Auch davon gibt es zahllose Variationen, von einfachen Unterführungen bis hin zu hohen Viadukten, durch die wir hindurchgleiten, als wäre diese ganze straßenbaumeisterliche Leistung nur für uns Radfahrer erfolgt.
Links und rechts des Weges ragen meist hohe Bäume und Büsche auf und versperren die Sicht ins Weite. Aber da, wo einmal der Blick hinausdringen kann, erfährt sich der Radler wie ein hoch Schwebender über der unter ihm liegenden hügeligen Landschaft. Die Balkantrasse kommt uns vor wie die Leitschiene einer überdimensionalen Schwebebahn. Ist es Undank, dass wir etwas vermissen? Es bedarf gar keiner Anstrengung mehr, den richtigen Weg zu finden. Immer nur dem vorbestimmten, unverfehlbaren Weg zu folgen ist irgendwie langweilig.
Schließlich erreichen wir unseren Zielort für die heutige Etappe: Burscheid. Wir passen die Ausfahrt in Richtung Burscheid Mitte ab und scheren aus der Spur in eine kleine Seitenstraße der Innenstadt von Burscheid. Wir hätten nach rechts die Straße hinauffahren sollen wie wir jetzt wissen. Wir aber fahren nach links hinab. Vielleicht sind wir es leid, nur und nur immer bergauf zu fahren. Bald schon stoßen wir auf eine Treppe, bei der wir absteigen müssen, um unsere Räder hinab zu schieben. Ein zweimal noch biegen wir nach recht ab, dann sehen wir den Kirchturm, der uns die Mitte der Ortschaft anzuzeigen scheint.
Wir defininieren, dass wir am Ziel angekommen sind. Auf dem Vorplatz der Kirche, der an den zentralen Dorfplatz von Burscheid grenzt, setzen wir uns auf eine der Bänke und packen unsere Proviantbrötchen aus. Drei junge türkischstämmig aussehende Burschen von etwa 14 Jahren sitzen auf einer der anderen Bänke.
Ich höre aus dem Seitenportal der Kirche zarte Orgelklänge herausdringen. Ich beschließe, einmal in die Kirche hineinzuschauen. Auf dem Weg zu dem Portal komme ich an den Jungs vorbei. Sie unterhalten sich gerade über Jesus und über Maria. Das Gesprächsthema interessiert mich und ich bleibe bei ihrer Bank stehen. Sie fragen mich, ob Gott eine Frau habe und ob Maria die Frau von Gott sei. Ich antworte, dass Maria ja ein Mensch sei und deshalb nicht die Frau von Gott sein könnte. Maria habe einen menschlichen Mann, nämlich Josef. Josef sei aber nicht der Vater von Jesus. Jesus sei Gottes Sohn. Einer der Jungs wendet ein, dass Jesus ja auch ein Mensch sei. Wie er denn dann Gottes Sohn sein könne. Das ist klug überlegt und ich muss mich sehr anstrengen, darauf eine nachvollziehbare und den christlichen Glauben entsprechende Antwort zu geben. Ich erkläre, dass dies das größte und geheimnisvollste Geschenk von Gott an die Menschheit sei, dass er seinen Sohn hat Mensch werden lassen. Die Jungs wollen wissen, wie Maria denn von Gott schwanger werden konnte. Ich antworte, dass dies durch den heiligen Geist geschehen sei, ohne Sex. Auch das sei ein großes Geheimnis. Einer der Jungs teilt mit, dass er Moslem sei. Die beiden anderen seien katholisch. Er glaube ja an Allah, die anderen an Gott. Ich erkläre, dass es sich bei beiden um ein uns denselben Gott handele. Dem jungen Muslim scheint der Gedanke zu gefallen und er ergänzt, dass ja Mohammed genauso ein Prophet gewesen sei wie Jesus. Das kann ich so nicht stehen lassen, denn Jesus ist ja als der Sohn Gottes weit mehr als nur ein Prophet. Ich breche nun auf, um in die Kirche hinein zu gehen. Die Jungs rufen hinter mir her, dass man dort nicht hineingehen könne. Doch siehe, die Tür lässt sich öffnen und ich gehe hinein.
Ich lausche eine Weile den Orgelklängen und begebe mich wieder hinaus zu den Jungs. Ich fordere sie auf, auch einmal hineinzugehen. Sie sollten sich richtig in eine Bank setzen und der Orgel ein wenig zuhören. „Dürfen wir das denn?“, wollen sie wissen. Und der Muslim fragt sogar besorgt: „Verliere ich auch nicht mein Moslem, wenn ich da reingehe?“ „Nein“, beruhige ich ihn. „Auf keinen Fall.“ Er vergewissert sich noch ein paar mal, ob er wirklich nichts befürchten müsse, dann gehen die Drei tatsächlich hinein und bleiben eine ganze Weile darin. Als sie wieder herauskommen, erzählen sie, dass die Frau an der Orgel einen Hund bei sich gehabt hätte. Das fanden sie irgendwie am interessantesten.
Johannes und ich brechen wieder auf, um die Rückfahrt anzutreten. Wir verabschieden uns von den Jungs und fahren zur Auffahrt auf die Balkantrasse. Wir wollen diesmal die Trasse bis ganz an ihr Ende fahren, um zu schauen, wo sie beginnt. Es geht fast die ganze Zeit bergab. Nach einer halben Stunde endet die Bahntrasse und wir gelangen auf den Parkplatz des Burscheider Bahnhofs. Über die Gleisanlagen führen zwei große Fußgängerbrücken. An der ersten Brücke fahren wir fatalerweise vorbei und entscheiden uns für die zweite Brücke. Über eine flach ansteigende Rampe kann man sehr gut auf die Brücke auffahren. Hoch oben überqueren wir die Gleise und stehen auf der anderen Seite plötzlich vor einem Problem. Es gibt hier keine Fahrradrampe, sondern nur eine hohe, steile Metalltreppe ohne Fahrradschiene. Die E-Bikes sind so schwer, dass ich mein eigenes Rad nicht hinuntertragen kann. Wir transportieren das Rad von Johannes nach unten und lassen mein Rad zunächst oben stehen. Eine Gruppe Spaziergänger kommt uns unten entgegen und einer der jungen Männer bietet uns an, mein Rad hinabzutragen. Wir nehmen das Angebot gerne an und freuen uns wieder einmal über die auffällige Hilfsbereitschaft der bergischen Menschen.