Die Dame in Bruyns gutbürgerlicher Familienszene steht hinter ihrer Tochter und legt ihr behütend die rechte Hand auf die Schulter. Die linke Hand berührt das Kind mit dem ausgestreckten Zeigefinger. In dieser Geste deutet sich der Erziehungsaspekt der Mutter-Tochter-Beziehung an. Das Mädchen, das wie eine Miniaturausgabe der Mutter wirkt, hat erst noch zu werden, was die Mutter schon ist. Ihre brav aufeinandergelegten Hände zeigen, dass sie sich diesem Programm fügt. Die weiten Ärmel der Mutter umhüllen die Kleine wie ein Zelt und schließen sie zugleich in einen engen Rahmen ein, aus dem sie nicht ausbrechen darf. Karl H. nimmt die Tochter aus der heimischen Umgebung heraus und setzt sie in die erste Reihe einer Schulklasse. Die Bank, auf der sie ihre Ärmchen ablegt und die acht Kindergesichter hinter ihr rufen diese Assoziation hervor. Diese anderen Kinder unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von unserer Kleinen, die einer viel früheren Zeit entstammt. Die anderen sind heutige Kinder, deren individuelle Physiognomien eine ganz unterschiedliche Herkunft erahnen lässt. Sie sind außerdem schwarz-weiß und nach hinten immer blasser werdend gezeichnet, was darauf hindeutet, dass es um sie nicht in erster Linie geht. Sie bilden nur den Kontext, in den Karl H. das Mädchen von Bruyn hineinsetzt. Hier wirkt es plötzlich ein wenig verloren. Die anderen Kinder mit ihrem nach vorne gerichteten klaren Blick sehen mutiger und aufgeweckter aus. Karl H. stellt der Kleinen rechts und links zwei Blumen in ihren Farben an die Seite. Auf diese Weise erscheint sie selbst als ein zartes Pflänzchen und zugleich auch beschützt und eingerahmt durch die beiden Begleiter. Die symbolisieren vielleicht ihre Eltern, die weiterhin an ihrer Seite sind und ihr die Richtung weisen. Bruyns Kleine und die Kinder hinter ihr stehen für die Zöglinge aller Zeiten und aller Völker, die alle denselben Weg des Werdens zu gehen haben.
Alice Schopp