Johannes geht es wieder so gut, dass er sich eine kleine Wanderung zutraut. Er möchte auch gerne den Spetzgarter Tobel sehen, den ich ja vor ein paar Tagen ganz alleine durchwandert habe. Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen des beschwerlichen Aufstiegs bis zum P&R-Parkplatz am Krankenhaus, wo der Wanderweg ja beginnt. Das wird für Johannes mit Sicherheit noch zu anstrengend sein. Wir starten unseren Wanderausflug auf der Promenade vor unserem Haus und gehen bis zum „Bodenseereiter“, dem Kunstwerk von Peter Lenk, das den Brunnen auf dem Landungsplatz von Überlingen ziert. Ich führe unsere kleine Wandergruppe an. Johannes folgt mir auf den Fersen.
Gleich neben dem Landeplatz befinden sich der Busbahnhof und ein Taxistand. Ich wähle ein Taxi aus und bitte den Fahrer, uns zum P&R-Parkplatz beim Krankenhaus zu bringen. Das habe ich mir als kleine Überraschung für Johannes ausgedacht. Johannes setzt sich neben mich auf die Rückbank und lächelt mich anerkennend an. Innerhalb von fünf Minuten erreichen wir den Ausgangspunkt der Wanderung.
Wir überqueren die B 31 über eine Brücke, hinter der es nach links in den Spetzgarter Weg hineingeht. Der Weg führt wieder durch Blumenwiesen mit vereinzelten Obstbäumen. Ich mache Johannes auf das Konzert der Grillen und Vögel aufmerksam. Und ich zeige ihm weit oben auf der Spitze des Hügels die Kirche von Aufkirch, die mit ihrem markanten Staffelgiebel so einen attraktiven Blickfang bildet. Zu diesem Ort würde ich gerne einmal wandern. Es muss wunderschön sein dort oben.
Nach einem Kilometer etwa erreichen wir den Wald mit der Infotafel zum Spetzgarter Tobel. Ich lese Johannes den interessanten Text vor: „Der Spetzgarter Tobel entstand nach der Würmeiszeit, die vor etwa 15.000 Jahren zu Ende ging. Da die steile, bis zu 65 Meter tiefe Schlucht schwer zugänglich ist, blieb sie weitestgehend in ihrem naturnahen Zustand erhalten. Das feucht-kühle Lokalklima des bereits 1930 unter Schutz gestellten Tobels ist inzwischen zu einem bedeutenden Rückzugsgebiet für eine Reihe seltener nordisch-alpiner Pflanzen geworden.“
Wir betreten den urtümlichen Wald mit seinen riesenhaften Bäumen. Links vom Weg klafft die tiefe Schlucht. Ganz unten hören wir den Tobelbach rauschen, der entgegen der Angabe in meinem Wanderführer eigentlich Killbach heißt, wie ich inzwischen herausgefunden habe. Der Bach des nicht weit von hier entfernten Hödinger Tobels hat den Namen „Tobelbach“. Wir passieren die steile weiße Molassewand und folgen dem zu der Holzbrücke bergab führenden Waldweg. Auf der Brücke bleiben wir stehen und beobachten den tief unter uns durch das uralte Bachbett rauschenden Killbach. Wir gehen auf die andere Seite hinüber und steigen die steinernen Stufen hinauf. Eine Weile noch geht es weiter durch den schattigen Urwald mit seinen unzähligen Vogelstimmen. Und bald schon treten wir hinaus aus dem Wald und sehen das Spetzgarter Schloss vor uns. Ich erkläre Johannes, dass hier ein Teil des Internats von Salem untergebracht ist.
Wir studieren die Wegweiser an der Kreuzung und sehen, dass von hier aus ein etwa 3 km langer Wanderweg nach Aufkirch führt. Aufkirch, der hochgelegene Ort mit dem schneeweiß leuchtenden Kirchturmgiebel, ist schon lange ein Sehnsuchtsort von mir. Ich träume jetzt von einem Café dort oben mit spektakulärem Blick über Überlingen und den Bodensee. Wir verwerfen unseren ursprünglichen Plan, den Weg in Richtung Hödingen fortzusetzen, und folgen dem Wegweiser nach Aufkirch. Die Wanderstrecke ist auch sehr schön. Eine schmale asphaltierte Straße windet sich durch die hügelige Landschaft, die beherrscht ist von großen Wiesen und kleinen Wäldchen. Wir vermissen nur den Blick auf den See. Stattdessen sehen und hören wir jetzt eine stark befahrene Landstraße, die in einiger Entfernung parallel zu unserem Weg verläuft. Der Himmel verdunkelt sich. Ein Regenbogen erscheint am Himmel.
Unser Weg knickt jetzt nach rechts ab und führt in einen Wald hinein. Wir vermuten, dass es sich um einen Ausläufer des Tobelwaldes handelt. Der Bach, den wir wieder auf einer Holzbrücke überqueren, ist vermutlich der Killbach. Als wir aus dem Wald heraustreten, sehen wir etwa 1 km vor uns den schneeweißen Treppengiebel des Kirchturms von Aufkirch, der sich leuchtend von dem dunklen Himmel abhebt. Er sieht von hinten exakt so aus wie von vorne mit seinen beiden Bogenfenstern in der Mitte und den beiden quadratischen Ausgucken ganz oben am Giebel.
Über einen Feldweg nähern wir uns langsam dem kleinen Ort, zu dem außer der Kirche nur wenige Häuser gehören. Das Gotteshaus steht rechts von uns auf dem höchsten Punkt von Aufkirch gleich neben einem großen gepflügten Feld. Es ist von hier aus nicht erkennbar wie man zu der Kirche gelangen soll. Wir gehen ein Stück weiter und biegen nach rechts in die einzige Straße von Aufkirch. Wir gehen an drei Häusern vorbei und stoßen auf eine Absperrung, hinter der sich eine gigantische Schutthalde auftürmt. Die Kirche liegt jetzt rechts von uns auf einem Hügel. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als könne man nicht näher an sie herankommen. Wir wagen es, den Privatweg eines Bauernhauses zu betreten und erblicken jetzt einen wunderschön mit kleinen Hecken und Blumenbeeten angelegten Kirchgarten, durch den ein Schotterweg zur Kirche hinaufführt. Beim Hinaufgehen sehen wir wieder den riesigen Abfallhaufen, hinter dem sich die Kirche gleichsam versteckt. Wir gehen einmal ganz um das Gebäude herum und versuchen an allen Portalen, in die Kirche hineinzukommen. Leider sind alle Türen verschlossen. Wir steigen wieder hinab und gehen wieder an dem Bauernhaus vorbei. Eine dicke Katze, die schläfrig auf einer Bank vor dem Haus liegt, beäugt uns misstrauisch.
Wir verlassen Aufkirch und staunen über den großartigen Blick auf Überlingen und den See, den man von hier oben hat. So hatten wir uns das vorgestellt. Nur fehlt das Café, in das wir uns gerne gesetzt hätten. Von hier aus sind es nur noch fünf Minuten bis zum P&R-Parkplatz. Als wir dort eintreffen, hält gerade der Überlinger Shuttlebus. Er nimmt uns wieder mit zurück zum Anleger, wo uns Martin Walser hoch oben zu Pferde schon erwartet.