Bei unserem gestrigen Besuch des regnerischen Überlinger Wochenmarktes sind wir auch einmal die Stufen zum Überlinger Münster hinaufgegangen, zur großen fünfschiffigen Basilika St. Nikolaus, um nachzusehen, wann dort Sonntagsgottesdienste stattfinden. Zu unserer Freude sahen wir, dass morgen ein sehr besonderer Gottesdienst stattfindet: Erste Schwedenprozession, Robert Jones: Missa brevis in D, Edward Elgar: Ave Maria. Wundervolle Musik. Da werden wir hingehen, sagten wir uns, wenn uns auch die Uhrzeit schreckte. Der Gottesdienst beginnt bereits um 8:00 Uhr.
Wir stehen ausnahmsweise früh auf, verzichten auf ein Frühstück und begeben uns zur Kirche. Als wir sie gegen 10 von 8 betreten, sind schon viele Gläubige im Gotteshaus versammelt. Der vordere Bankreihenblock ist noch fast leer. Dort wollen wir uns gerade hinsetzen, als wir entdecken, dass an den Bänken Schildchen angebracht sind, auf denen zu lesen ist: Reserviert für Trachten. Was hat das zu bedeuten? Wir schauen uns um. Gerade treten einige auffällig gekleidete Damen ein und nehmen in einer der reservierten Bankreihen Platz. Ich bin fasziniert von ihrem Erscheinungsbild. Sie tragen Hauben mit einem hochaufragenden radförmigen goldenen oder silbernen spitzenbesetzten Metallgitter auf dem Kopf. Die bodenlangen Kleider sind ebenfalls prächtig anzusehen. Sie sind zweiteilig gearbeitet aus glänzenden farbenfrohen Seidenstoffen. Über den weit fallenden Rock, der hinten eine Falte bildet, ragt ein kurzes Schößchen des Oberteils, über dem wiederum die breite Schleife der Schürze gebunden ist. Um die Schultern tragen die Damen ein prächtig verziertes Dreieckstuch.
Mit der Zeit füllen sich die reservierten Reihen mehr und mehr. Auf der rechten Seite des Mittelschiffes nehmen vor allem Herren Platz, die auch feierlich aussehen mit ihren schwarzen Anzügen. Mir scheint, dass nur die Damen Tracht tragen. Die Vielzahl der prachtvollen Trachtenfrauen, die würdevoll und mit stolzem Gang durch die Kirche schreiten und sich dann eine neben der anderen in den Bänken aufstellen, beeindruckt mich sehr. Eine machtvolle Tradition. Der Anblick versetzt mich in eine gehobene, feierliche Stimmung. Ganz leise und unterschwellig schwingt allerdings eine Skepsis mit. Was ist das für ein Frauenbild, das mit solchem Verehren der Vergangenheit transportiert wird?
Wir haben inzwischen weiter hinten im Mittelschiff Platz genommen. Die Reihe vor uns ist gefüllt mit Kommunionkindern, die in weiße Kutten gehüllt sind. Der Gottesdienst beginnt. Mit wuchtigem Getöse setzt die Orgel ein. Gerhard Breinlinger an der Orgel liebt die pompösen Klänge. Das ist uns früher schon in den Überlinger Gottesdiensten aufgefallen. Von Messdienern angeführt, ganz vorne eine junge Dame mit dem Kreuz, zieht die Schar der Zelebranten durch den Mittelgang nach vorn. Der Pfarrer tritt ans Mikrofon und begrüßt zuerst den Oberbürgermeister und die Stadträte, dann den Gemeinderat und zuletzt die Gemeinde. Es irritiert mich, dass in einem Gottesdienst unterschieden wird zwischen den Gläubigen. Dann erwähnt er auch noch, dass die Herrschaften ja wegen der Renovierungsarbeiten heute nicht im Chorgestühl Platz nehmen konnten und deshalb unten beim Kirchenvolk sitzen müssten. Er nennt das allerdings eine göttliche Idee.
Der Pfarrer, Bernd Walter, ist offensichtlich neu in der Gemeinde. Er erklärt, dass es für ihn die erste Schwedenprozession sei. Ich frage mich, was es überhaupt auf sich hat mit dieser ungewöhnlichen Prozession. Bernd Walter erklärt, dass vor 385 Jahren der Magistrat der Stadt ein Gelübde abgelegt habe, zweimal im Jahr eine Prozession abzuhalten aus Dankbarkeit, verschont worden zu sein vor Plünderungen und Zerstörungen. Im dreißigjährigen Krieg war die Stadt durch schwedische Truppen belagert worden. Die Entschlossenheit und Tatkraft der Überlinger Bürger konnte den Feind zum Abzug zwingen.
Ein feierlicher Gottesdienst beginnt. Die Gesänge des Münsterchores erheben die Herzen ebenso sehr wie die zahlreichen weiß gewandeten Messdienerinnen und Messdiener, wie die weihrauchgeschwängerte Luft, die sich der ein oder andere kleine Messdiener belästig aus der Nase wedelt, oder die thematisch zum Dank passend gewählten Schmetterhymnen aus dem Gotteslob, die die Gemeinde singt.
Die Predigt beginnt. Pfarrer Walter wendet sich wieder zuerst an den Oberbürgermeister und wiederholt die Abstufung der Gläubigen von eben. Ich höre aufmerksam zu, was er zu sagen hat. Viele gute Gedanken geben mir Stoff zum Nachdenken. Er spricht über die Schwedenprozession, eine Aktion ständigen Wiederholtwerdens. Was bedeutet eigentlich „Wiederholen“? Ist es wie beim „Dinner for one“? The same pocedure als every year? Wird hier eine gesellschaftliche Konvention aufgeführt, nur um zu zeigen, was man hat? Walter weist auf Peter Handkes Roman „Die Wiederholung“ hin, durch den er einen ganz neuen Aspekt auf das Wiederholen gewonnen hat. Man kann „wiederholen“ zusammenschreiben oder getrennt schreiben. Getrennt geschrieben bedeutet es, dass man etwas wieder holt, zurückholt, einen neuen Anfang macht. Bei der Schwedenprozession geht es um den Dank, auf den man wieder besinnen sollte. Die Wiederholung der Schwedenprozession bringe Gott wieder neu ins Spiel. Wir nähmen heute alles viel zu selbstverständlich. Es gehe uns sehr gut. Aber wir seien nicht zufrieden. Der Unzufriedene sieht nur, was er nicht hat. Der Zufriedene sieht, was er hat. Wir sollten dankbar sein, in einem vereinten, friedlichen Europa zu leben.
Die Geschichte von einer Spinne, die er nun anführt, eröffnet noch eine andere Dimension der Dankbarkeit. Eine Spinne hatte ein filigranes Netz gesponnen, um darin ihre Beute zu fangen. Nach einer geraumen Zeit, findet sie eines Tages das Netz leer vor. Sie spaziert über das Netzt hin und her und ärgert sich darüber, dass sich nichts darin verfangen hat. Da stößt sie auf einen Faden, der steil nach oben führt. An diesem Faden hatte sie sich herabgelassen, um das Netz aufzuspannen. Sie erinnert sich nicht daran. Sie fragt sich, was für ein fremder Faden das ist. Aus Sorge vor einem fremden Eindringling beißt sie den Faden durch. Und auf einen Schlag bricht das ganze Netz in sich zusammen.
Das Netz sei unser Leben, der Faden nach oben die Verbindung zu Gott. Das genau bedeute die Prozession. Sie sei der Faden nach oben. Die Prozession bewirke, dass wir von Gott sprechen. Wenn irgendwann nicht mehr von Gott gesprochen werde, wäre der Mensch das einzige Maß. Wir aber können uns gegenseitig nicht die Sehnsucht erfüllen. Der Mensch brauche mehr Atem, als ein anderer Mensch ihm geben kann. Was aber bringe diese Verbindung zu Gott? Sie bringe kein höheres Einkommen, keinen beruflichen Erfolg, keine besseren Schulnoten, nichts dergleichen. Das einzige, was sie bringe, sei dies: Eine Beziehung mehr, eine entscheidende Beziehung. Ich müsse mein Leben nicht mehr alleine schultern, erst recht nicht den Tod.
Nach dem Gottesdienst wird das Allerheiligste in einer langen Prozession durch die feierlich geschmückte Stadt getragen begleitet von der Stadtkapelle und Böllerschüssen.
Ja, die Spinnennetzparabel, ich habe sie oft gehört, klingt gut, wird aber keinen atheistisches Hund hinter dem Ofen hervorholen. Das ebenso altbackene Gegenargument lautet: Gesetzt, dass Gott gut ist, warum lässt er es dann zu, dass sein vergessliches Geschöpf sich irrtümlich selbst vernichtet?
Du merkst, ich tue mich schwer mit dem Kulturchristentum und seiner ritualisierten Selbstvergewisserung, die wie ein Pfeifen im dunklen Wald klingt. Wiewohl ich es niemandem abspreche dies alles gut und vor allem schön zu finden.