Die ganze Nacht hat es heftig gestürmt und geschneit. Unser erster Blick am Morgen gilt dem spektakulären Seeblick mit Alpenpanorama. Es ist nichts von Alpen zu sehen. Die weiße zugeschneite Eisfläche des Hopfensees wird am gegenüberliegenden Ufer von sanften bewaldeten Hügeln begrenzt, hinter denen keine schroffen Zweitausender aufragen. Immer noch schneit es. Was fängt man mit einem solchen Tag an? Zunächst einmal hole ich Brötchen bei dem einzigen Bäcker am Ort, dem Bäcker Feneberg. Ich muss nur ein paar Häuser weiter in den Ort hinein gehen. Rechts neben der Bäckerei gibt es einen kleinen Lottoladen mit Zeitschriften, Geschenkartikeln, Spielwaren und Kartenmaterial. Dort frage ich nach einer Karte, aus der ich die Namen der momentan unsichtbaren Berggipfel von gegenüber entnehmen kann. Der freundliche Herr an der Kasse reicht mir eine fünfteilige Klappansichtskarte, die auseinandergefaltet das gesamte Alpenpanorama von Hopfen zeigt mit Namens- und Höhenangaben an jedem Gipfel. Das ist genau das, was ich brauche.
Nach dem Frühstück zieht es uns noch nicht sofort aus dem Haus. Ich bin heimlich froh, ein wenig Zeit zum Schreiben an meinem Reisebericht zu haben. Irgendwann, als wir merken, dass es nicht aufhört zu schneien, wagen wir uns doch hinaus. Wir haben gelesen, dass es oberhalb von Hopfen eine interessante Burgruine geben soll, die als älteste erhaltene Steinburg im Allgäu gilt. Laut unserer Broschüre ist es erwiesen, dass sie vor 1078 erbaut wurde. Erstmals namentlich erwähnt worden sei sie 1322 als „castrum Hopfen“, dem Amtssitz des Probstes von Füssen. Nach Zerstörungen durch den Bauernkrieg 1525 und später den Dreißigjährigen Krieg wurden die Überreste der Burg weitgehend abgetragen und zum Bau der Klosterkirche St. Mang in Füssen verwendet. Eigentlich sind uns diese historischen Daten nicht so wichtig. Es ist einfach schön, ein definiertes Ziel für eine Unternehmung zu haben. Und diese kleine Wanderung scheint uns heute bei der unbequemen Wetterlage wegen ihrer überschaubaren Länge gerade passend zu sein. Zusätzlich motiviert uns die Aussicht auf einen großartigen Blick von oben über den ganzen Ort Hopfen und den See. Von dem Alpenpanorama werden wir vermutlich auch von dort oben aus nichts sehen können.
Wir suchen zuerst die Touristeninformation von Hopfen auf. Auf dem Weg dorthin weht uns der nasskalte Schnee frontal ins Gesicht und wir fragen uns, ob wir nicht besser einen Schirm mitgenommen hätten. Wir lassen den Gedanken fallen, weil wir ahnen, dass wir die Aktion vielleicht ganz abbrechen würden, wenn wir jetzt zurückkehrten, um Schirme zu holen. Von 12 Uhr bis 14 Uhr macht das Touristenbüro Mittagspause. Wir haben Glück und treffen gerade noch rechtzeitig vor dem mittäglichen Schließen ein. Die Beraterin händigt uns Material über Hopfen aus, auch ein Faltblatt, in der die Burg erwähnt wird. Sie rät uns, bei dem momentanen Wetter nicht den kürzesten Aufstieg zur Burg zu nehmen, der direkt hinter der Touristeninformation bergauf führt. Die Strecke sei momentan unbegehbar. Lieber sollten wir bis ans Ende der Ortschaft gehen und dann nach rechts dem ausgeschilderten Weg folgen. Ganz bis an die Burg heranzukommen sei wahrscheinlich nicht möglich. Aber auf den Berg hinauf würden wir schon gelangen können. Wir folgen ihrem Rat. Der Gehweg innerhalb des Ortes ist gestreut und schneefrei. Aber dort, wo es nach rechts abgeht, beginnt ein Marsch durch den frisch gefallenen Schnee. Wir sind die ersten, die dort entlang gehen. Unsere Spur drückt sich hinein in die jungfräuliche weiße Fläche.
Bevor es hinauf geht in den Wald, kommen wir noch an einem letzten Haus vorbei, an der Ferienpension Haus Weber. Ein Hinweisschild gibt Auskunft darüber, dass der Weg bis zur Burg nur 0,9 km lang ist. Es heißt, der Aufstieg dauere 15 Minuten. Trotz unserer guten Wanderschuhe rutschen wir häufig aus auf dem steil bergauf führenden Waldweg. Wir fragen uns, wie wir nur später wieder herunterkommen sollen. Schön wäre es jetzt, einen Schlitten dabei zu haben. Was wäre das für ein Riesenvergnügen, diesen gewundenen Weg von ganz oben bis ganz unten hinunter zu rodeln. Wir steigen unbeirrt immer weiter hoch. Mein Herz klopft schon bald bis zum Halse. Immer wieder bleibe ich stehen und pausiere ein wenig. Die Geräusche des Waldes nehmen mich gefangen. Der stürmische Wind fetzt die Baumkronen hin und her. Ein gigantisches Rauschen umfängt mich und übertönt die zaghaften Vogelstimmen, die zwischendurch leise hörbar sind und mir ein Ende des Winters zu künden scheinen. Der Weg führt jetzt durch ein Waldstück von mathematisch exakt in parallelen Reihen gepflanzten alten Tannen, deren hohe kahle Stämme einseitig beschneit sind. Ich kann mich nicht sattsehen an dem Anblick solch prächtiger Symmetrie und versuche ihn im Foto festzuhalten. Das aber ist nicht so einfach. Zuerst müssen die dicken Winterhandschuhe ausgezogen und irgendwo untergebracht werden. Dann muss die Kamera aus ihrer vor Nässe schützenden Position unter meiner Achsel hervorgeholt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die eiskalten Finger nicht gleich an die richtigen Stellen greifen, sondern falsche Knöpfe drücken und Einstellungen verändern. Es dauert geraume Zeit bis der gewünschte Eindruck im Bild festgehalten werden kann.
Wir sind am Ende unseres Weges angelangt. Ein wenig oberhalb von unserem Standort sehen wir die schweren drei Meter hohen Steinmauerreste, die mit großem Radius den Gipfel eines Hügels umrunden. Ein Wegweiser stellt zwei Möglichkeiten vor, zur Burg zu gelangen, den Südzugang und den Nordzugang. Der Südzugang ist völlig unbegehbar, wie wir schnell feststellen müssen. Kaum setzen wir einen Fuß in diese Richtung, sinkt er etwa 50 cm tief ein in gefrorenen Altschnee. Wir wählen den Weg, der nördlich um die ganze Burganlage herumführt. Der alte Schnee unter den frischen Flocken ist gut festgetreten und Treppenstufen sowie ein Holzgeländer erleichtern das Laufen.
Endlich gelangen wir auf die Südseite der Anlage, von der aus man die ummauerte Burginnenfläche betreten kann. Wir gelangen zuerst auf einen kleinen Vorplatz, der bei guter Sicht offenbar einen Ausblick auf das ganze Hopfenseepanorama bietet. Auf zwei breiten schrägliegenden Panoramatafeln, die wir erst von ihrem Schneebelag befreien müssen, sind alle Gipfel entsprechend ihrer geografischen Lage eingezeichnet und mit Namen und Höhe bezeichnet. Schade, dass wir keinen Gipfel sehen. Immerhin sehen wir den ganzen See und auch den Ort Hopfen.
Wir steigen noch einmal eine kleine Treppe hinauf und gelangen in den Innenbereich der Burganlage. Im Zentrum befindet sich eine hölzerne Picknicksitzgruppe, die im Sommer zu einer Brotzeit in der Burgruine einlädt. Heute sieht sie nicht so einladend aus wie das unten stehende Bild zeigt.
Wir studieren die interessanten Beschreibungen der Burggeschichte auf der Infotafel eines Burgenforschungsteams und stellen uns vor, wie es wohl gewesen sein muss, hier oben auf dem Berg in der Burg zu leben.
Bald verlassen wir die Burg wieder auf demselben Wege, auf dem wir gekommen sind. Der Abstieg vom Berg verlangt höchste Konzentration auf den Weg. Wir versuchen es zu vermeiden, in unsere Spur vom Aufstieg zu treten, denn das hat sofort eine kleine Rutschpartie zur Folge. Schließlich erreichen wir glücklicherweise ohne Stürze wieder die Uferstraße von Hopfen und sind fünf Minuten später zurück in unserem Appartement.