Der Sonntag beginnt vielversprechend mit blauem Himmel und sonnenbestrahlten Gipfeln jenseits des Hopfensees. Um 10 Uhr brechen wir zu unserer ersten Schneewanderung auf. Aus den Unterlagen, die uns das Füssener Touristenbüro zugeschickt hat, wählen wir den nächstliegenden Wanderweg aus, den Hopfenseerundweg. Über ihn heißt es: „Die Runde um den ganzjährig sonnenverwöhnten Hopfensee – auch als Allgäuer Riviera gerühmt – bietet einen tollen Blick auf das Alpenpanorama mit Tegelberg und Säuling.“
Wir starten den Rundweg gleich gegenüber von unserem Hotel. Wir überqueren die Uferstraße und befinden uns schon wenige Schritte später auf dem schneefreien Panoramaweg, der am Seeufer entlang führt. Ein Hinweisschild verrät, dass die Umrundung des Hopfensees eindreiviertel Stunden dauert. Auch unter Einheimischen ist der Wanderweg für einen Sonntagsspaziergang sehr beliebt, wie wir aus dem Infoheftchen erfahren. Besonders heute an einem so sonnigen Sonntag hat es viele Wanderer auf den attraktiven Rundweg gezogen. Wir wenden uns nach rechts, um den See linksherum zu umrunden. Zunächst führt der Weg am Ort Hopfen entlang, vorbei an einem Pavillon für Kurkonzerte. Hier erinnert vieles an die Gesundheitslehren von Pfarrer Kneipp. Hopfen ist einer der zahlreichen Kneippkurorte Deutschlands. Unser Weg führt an einem Kneippschen Kräutergarten vorbei, an Info-Stelen zu den fünf Säulen der Gesundheit nach Kneipp (Wasser, Pflanzen, Bewegung, Ernährung und Balance) und an sogenannten Gedankenbänken, die aber unter ihrem Schneebelag fast versinken. Im Sommer soll es auf dem Hopfensee eine schwimmende Insel mit Tretbecken geben. Alle paar Minuten begegnen uns Wanderer, die den Rundweg in der umgekehrten Richtung begehen. Zuerst begrüßen wir sie mit „guten Morgen“, doch schon bald gewöhnen wir uns auch das „Grüß Gott“ oder „Servus“ an. Die jüngeren Leute sagen einfach „Hallo.“ Nachdem wir das Strandbad von Hopfen passiert haben, wendet sich der Weg nach links und führt weg von der Ortschaft. Die Strecke, die nun folgt, ist nicht mehr geräumt, sondern nur gesplittet. Der angetaute Schnee ist teilweise wieder zu einer Eisschicht gefroren und macht das Gehen äußerst beschwerlich. Ständig geraten wir ins Rutschen und müssen sehr darauf achten, wohin wir treten. Einige der Entgegenkommenden gehen mit Walking-Stöcken. Daran haben wir leider nicht gedacht. Auch Sonnenbrillen haben wir nicht dabei. Die Sonne gleißt dermaßen hell über die schneebedeckte Eisfläche des Sees, dass meine Augen ständig tränen. Ich würde gerne einmal testen, ob die Eisdecke trägt. Aber es gibt mir zu denken, dass niemand über die Fläche spaziert. Wir sehen auch hier und da offene Stellen im Eis. Wie traumhaft wäre es doch, wenn der ganze See eine riesige spiegelnde Schlittschuhlauffläche wäre. Ich sehe mich in meiner Vorstellung dahingleiten in die Weite.
Wir reichen uns die Hand, um uns gegenseitig Halt zu geben. Schon bald merken wir, dass wir dadurch einen steiferen Gang bekommen und das Laufen noch anstrengender wird. Also schlittern wir wieder getrennt über die Eispartien in einem freieren, beweglicheren Stil. Zum Glück haben wir unser bestes Schuhwerk angezogen, die festen über die Knöchel reichenden Wanderschuhe mit gutem Profil. Eine Bank am Wegesrand zieht uns magisch an, wenn es auch keine der seltsam gestalteten Gedankenbänke ist. Das moderne Design der Stelen und Bänke soll der Kneippschen Idee ihre Verstaubtheit nehmen. Unsere ganz normale Sitzbank steht direkt am Seeufer und wird momentan frontal von der Sonne beschienen. Wir nehmen Platz und erholen uns ein wenig von dem anstrengenden Balancieren auf dem vereisten Weg. Es ist so warm, dass wir unsere Winterjacken öffnen und den Schal ablegen müssen. Eine ganze Weile sitzen wir so da und lassen unsere Gedanken schweifen. Von mir aus könnten wir noch Stunden bleiben. Hinter uns sind schon viele andere Wanderer vorbeigezogen. Ich stelle mir vor, dass sie vielleicht auch gerne an diesem attraktiven Plätzchen verweilen würden. Als wir uns schließlich erheben, eilt gleich ein junges Paar herbei und bedankt sich bei uns für das Vorwärmen und das Räumen der Logenplätze am See.
Der Rundweg führt eine Weile an einem Bach entlang und quert diesen schließlich über ein Brückchen. Wir gehen jetzt der Sonne entgegen. Der Weg ist hier ganz frei von Schnee und Eis. Immer wieder passieren wir kleine Wäldchen. Wir haben inzwischen das Südufer des Sees erreicht und sehen gegenüber auf den Ort Hopfen, der sich einen kleinen Hügel hinaufzieht. Wir bleiben stehen und fotografieren diese Aussicht. Wir erkennen sogar unser Hotel.
Ein älteres Paar kommt uns entgegen. Die Dame grüßt uns sehr freundlich und bietet uns an, ein Paarfoto von uns beiden zu machen. Wir nehmen das Angebot gerne an nicht ahnend, auf was wir uns einlassen. Wir geben der Dame unseren Fotoapparat und sie gibt uns gleich Regieanweisungen. „So jetzt bitte einmal die Köpfe aneinander legen. Und jetzt einen Kuss!“ Das geht uns entschieden zu weit. Mit humorvoll abwehrenden Gesten weigern wir uns, ihr Folge zu leisten. „Oder ist das vielleicht Ihr Chef?“, will sie von mir wissen. Ich wundere mich über ihre Assoziation. Von welchen Denkmustern ist denn diese Dame beherrscht? Ich erkläre ihr, dass wir beschlossen hätten, uns heute nicht zu küssen. Ich sei nämlich erkältet und wolle meinen Mann nicht anstecken. Das ist für die Dame ein Argument, das sie anerkennen muss. Sie ist nämlich Krankenschwester gewesen vor ihrem Eintritt in den Ruhestand wie sie uns verrät.
Ich biete der Dame an, auch von ihr und ihrem Mann ein Foto zu machen. Der Mann ist bereits 20 Meter weiter gegangen und steht dort hinten und winkt seiner Frau. „Wie aber sollen wir dann an das Bild kommen?, fragt sie mich. „Vielleicht haben Sie ja auch einen Fotoapparat oder zumindest Handys bei sich.“ Sie holt nun ganz weit aus, um uns klarzumachen, warum sie ohne Fotoapparat und auch ohne Handys unterwegs seien. Sie sähen doch immer diese Paare, die sich nichts mehr zu sagen hätten und nur ohne Unterlass in ihre Handys tippten. Zu denen wollten sie nicht gehören. Noch hören wir geduldig zu, wenn ihre Theorie auch immer umfangreichere Dimensionen annimmt. Schließlich tauchen weitere Themen auf. Es geht um Berufstätigkeit und Ruhestandsdasein. Es komme doch im Grunde nur darauf an, dass man zufrieden sei und gesund. Woher die Zufriedenheit rühre, sei doch ganz unwichtig. Wie wir erfahren, kann sich ihr Mann nicht von seiner Berufstätigkeit trennen, obwohl er schon vor vielen Jahren in die Rente entlassen worden sei. Kein anderer in der Firma, für die er arbeite, wisse so gut Bescheid wie er. Er würde jeden Tag noch gebraucht dort und bliebe dann immer für Stunden. Das sei doch in Ordnung so, meint sie. Sie redet und redet immer weiter. Sie erzählt auch von sich und ihrem Beruf, von den vielen Unfällen, die im Allgäu täglich passierten, davon, dass sie eigentlich aus Paderborn stammten und seit über 20 Jahren hier lebten. Für uns interessiert sie sich nicht. Ihr Mann ist inzwischen weiter gewandert. Wir sehen ihn in der Ferne marschieren. Das mache nichts, wenn sie ihn nicht mehr einhole, meint sie. Aber wir möchten jetzt sehr gerne weiter gehen. Vorsichtig versuchen wir, auf einen Abschied hinzuarbeiten, was nicht so einfach ist. Endlich gelingt es doch und wir setzen unseren Weg fort.
Unser Gespräch ist fortan beherrscht von der Begegnung mit dieser außergewöhnlich mitteilsamen Dame und unseren Deutungen einer derartigen Verhaltensweise. Wir gelangen jetzt in ein etwas längeres Waldstück. Der Untergrund ist holprig und vereist. Am Wegesrand sehen wir zahlreiche aus Baumstümpfen herausgeschnitzte Figuren. Als wir den Wald wieder verlassen, folgt eine Wegstrecke mit sonnenbeschienenen Bänken. Wir überlegen kurz, ob wir uns noch einmal in die Sonne setzen wollen. Aber die herrliche Südterrasse unseres Appartements lockt uns noch mehr. Auch die Seeterrasse des Restaurants Fischerhütte, auf der bereits viele Gäste mit bestem Ausblick auf den See und das Alpenpanorama in der Sonne sitzen, lassen wir links liegen, überqueren wieder die Uferstraße und steigen das Treppchen hinauf zu unserem Appartement. Wir betreten die Terrasse und schauen auf den See und die Berge. Und was sehen wir da? Ein Paar marschiert festen Schrittes ganz unbeirrt über die Eisfläche.