
Wir erreichen das Andreaskloster am äußersten östlichen Ende der Karpashalbinsel ohne von den freilaufenden Eseln behindert worden zu sein. Nach der völkerrechtswidrigen Besetzung Nordzyperns durch die Türkei im Jahre 1974 sind über Hunderttausend Zyperngriechen aus Nordzypern vertrieben worden. Ihre Esel ließen sie damals zurück und bereiteten so den türkischen Zyprioten nicht unbedingt eine Freude. Heute bietet der Karpas-Nationalpark den Tieren einen geschützten Lebensraum. Die zutraulichen Tiere laufen in kleinen Herden über die naturbelassenen Spitzen der Halbinsel und behindern gerne den Verkehr, indem sie mitten auf der Straße stehen bleiben. Sie blockieren die Straße so lange, bis man sie mit Karotten oder Äpfeln gefüttert hat. Wenn alle Busse, die Tag für Tag den Wallfahrtsort anfahren, passiert haben, wandern die Esel zum Andreaskloster, um dort die Touristen um Nahrung anzubetteln.
Kaum sind wir aus dem Bus ausgestiegen, werden wir nicht nur von mehreren Eseln, sondern auch von einer Schar wilder Katzen umringt. Wir lassen uns nicht beirren und begeben uns vorbei an einigen Markständen auf den Abstieg zu der berühmten Andreasquelle, die unten am Meer unterhalb des Klosters aus einem Felsen sickert. Selim hatte uns schon einiges über den heiligen Andreas erzählt. Dieser war wie sein Bruder Simon Petrus einer der 12 Apostel Jesu. Nach dem Tod Jesu wurde Andreas Missionar und bereiste viele Länder, um die Menschen zum Christentum zu bekehren. Seinen Tod am Diagonalkreuz, das nach ihm bis heute Andreaskreuz heißt, fand er alten Quellen zufolge in der griechischen Hafenstadt Patras, wo sich heute auch seine Gebeine befinden. Eine Legende erzählt, dass er Maximilla, die Frau den Stadthalters von Patras, geheilt und zum Christentum bekehrt hatte. Er erlegte ihr eheliche Enthaltsamkeit auf, wodurch er den Zorn des Stadthalters auf sich zog. Dieser ließ Andreas geißeln und anschließend kreuzigen.
Auch zur Andreasquelle gibt es eine Legende. Sie erzählt, dass die Römer von den Missionsreisen des Andreas gehört hatten. Sie nahmen ihn fest und schleppten ihn auf ein Schiff, das ihn zur Verurteilung nach Rom bringen sollte. Der Kapitän des Schiffes geriet bald darauf in große Sorge, weil die Wasservorräte an Bord aufgebraucht waren. Andreas erklärte, er sei in der Lage, Wasser zu finden und bat darum, an Land gehen zu dürfen. Dort schlug er mit einem Stab gegen einen Felsen und es sprudelte Wasser heraus, an dem sich die dürstende Schiffsmannschaft laben konnte. Darüber hinaus zeigte sich, dass das Wasser heilende Kraft besaß. Der Kapitän benetzte mit dem Wasser sein erblindetes Auge und es wurde sehend. Daraufhin ließ der Kapitän Andreas frei und der Apostel beschloss, sich an diesem Ort niederzulassen.
Die Quelle entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Wallfahrtsort. Im 12. Jahrhundert wurde an dieser Stelle ein Kloster gebaut. Im 15. Jahrhundert stiftete ein fränkischer Adeliger eine katholische Kapelle im gotischen Stil, die einige Meter unterhalb der Hauptkirche errichtet wurde. Sowohl die griechischen als auch die türkischen Zyprioten glauben an die Heilkraft der Quelle. Wer von dem heiligen Wasser trinkt, soll von seiner Krankheit geheilt werden. Wer blind ist, kann wieder sehen, wer gelähmt ist, kann wieder gehen. Die Besucher der Quelle füllen das Wasser in kleine Fläschchen und bringen es ihren Angehörigen mit. In der Klosterkirche stellen sie Kerzen auf, damit ihre Wünsche in Erfüllung gehen.
Wir steigen auf einem steilen Pfad zum Meer hinab und reihen uns in die kleine Schlange der Wundergläubigen, die sich vor dem dünnen Rinnsal gebildet hat, das aus dem Felsen sickert. Ein jeder hegt einen anderen Wunsch in seinem Herzen und hofft auf seine Erfüllung. Unser Freund Andreas, der vor uns in der Schlange steht, benetzt seine Stirnglatze mit dem Wasser. Er meint, das könne nicht schaden. Vielleicht wüchse dort auf die Weise wieder etwas.
Anschließend besichtigen wir die restaurierte orthodoxe Kapelle mit ihrer beeindruckenden Ikonenwand und begeben uns danach in die Klosterkirche, in der es von Touristen wimmelt. Zu einer Stille und Einkehr kommen wir hier nicht. Wir kaufen jeder noch eine Kerze und zünden sie zum Angedenken an einen lieben Verstorbenen an.
