Am 16.03.2024 fand wieder einmal ein Kulturevent im Hühnerstall des Knipscherhofes in Lohmar statt. Anders als sonst waren diesmal die Teilnehmer selbst aufgerufen, etwas zum Programm beizutragen. Das Thema des Abends lautete PASSAGEN. Darunter sollten Übergänge im Leben verstanden werden, ganz große wie zum Beispiel vom Kind zum Erwachsenen, oder auch kleine wie der Umzug in eine andere Stadt. Ich hatte mich für einen Beitrag angemeldet und verfasste den folgenden Text, den ich in dem berühmten, sehr ansprechend umgestalteten ehemaligen Hühnerstall vorlas:
Als mich die Einladung unserer Freunde Nicola Reyk und Jürgen Hein in den Hühnerstall erreichte, verspürte ich sofort die Lust, einen Text zu verfassen über eine solche Passage in meinem Leben. Der Titel PASSAGE irritierte mich zunächst. Ich schlug den Begriff in meinem historischen Wörterbuch nach und las:
1. Das Durchgehen, Durchfahren, Passieren
2. a) Schmale Stelle zum Durchgehen, Durchfahren, Passieren
b) überdachte kurze Ladenstraße für Fußgänger
3. große Reise mit dem Schiff od. dem Flugzeug über das Meer
4. fortlaufender, zusammenhängender Teil einer Rede, eines Textes…
5. (Musik) auf- und absteigende schnelle Tonfolge …
6. (Astronomie) Das Überschreiten des Meridians …
7. (Reiten) Form des Trabes …
Meine erste Assoziation zum Titel Passagen war die Passante gewesen, ein Begriff aus der Geometrie, der eine Gerade bezeichnet, die an einem Kreis außen vorbeiläuft ohne ihn zu schneiden oder zu berühren. Das französische „passer“ weist in diese Richtung. Es bedeutet vorbeigehen aber auch hinübergehen über eine Grenze. Dieses Letztere schien mir das Thema des heutigen Abends ziemlich genau zu treffen. Dass meine erste Assoziation gleich in die Mathematik zielte, kommt nicht von ungefähr, wie gleich unschwer an meiner ganz persönlichen Passage zu erkennen sein wird.
Dreizehn Schuljahre lang war ich schulisch nur auf ein Ziel hin konzentriert, das Abitur. Jedes Schuljahr erforderte seine spezifischen Anstrengungen, damit zunächst einmal die nächste Stufe erklommen werden konnte. Dann am Ende war das Abitur geschafft. Es war nicht üblich damals im Jahr 1971, diese einschneidende biographische Marke groß zu feiern. Wir holten uns unser Zeugnis im Sekretariat der Schule ab und gingen damit nach Hause. So blieb auch das geschärfte Bewusstsein aus für diese markante Beendigung eines langen Lebensabschnitts. Ein gewisses Gefühl der Leere entstand nach den 13 zielgerichteten Jahren.
Trotzdem stand natürlich die Frage im Raum, in welche Richtung es nun weitergehen könnte. Ich hatte keine wirkliche Idee. Ich wusste nur, dass ich Mathematik gut konnte. Vielleicht sollte ich etwas mit Mathematik machen.
Ich hörte von einem neuen Ausbildungsberuf. Er nannte sich „mathematisch technischer Assistent“, abgekürzt MTA. Das hörte sich für mich interessant an. Ich meldete mich für einen Einführungsabend in dieses Berufsbild an, das heute viel mit Informatik zu tun hat, damals aber gar nicht. Es gab noch kaum Computer. Ich erfuhr, dass ich als MTA möglicherweise später in einem Labor arbeiten, Versuchsaufbauten vorbereiten, Datenmengen manuell verarbeiten oder Ingenieuren bei ihrer Arbeit zur Seite stehen würde.
Der Abend hatte mich total enttäuscht. Die Mathematik erschien in dem Berufsbild des MTA ja nur als Hilfswissenschaft, quasi in degradierter Form. Ich erkannte, dass mich die Mathematik eigentlich nur um ihrer selbst willen interessierte. Die reine Mathematik war mein Ding. Sehr schnell wurde mir klar, dass ich diese allein in einem Studium würde finden können. Der Gedanke war ganz unerhört, an die Universität gehen zu wollen. Einen solchen Werdegang hatte ich überhaupt nicht in Betracht gezogen für mich. Ich hielt ihn für unglaublich anspruchsvoll und schwierig. Nun sah es aber so aus, als sollte ich mich dieser Herausforderung vielleicht doch stellen. Ich fühlte, wie ich über mich hinaus wuchs, größer und größer wurde. Es befiehl mich eine freudige Unruhe, ein Gefühl von sich öffnenden Räumen, von herrlicher Freiheit des Seins.
Damals verhielt es sich schon so wie heute, dass der Übergang vom Gymnasium in ein Mathematikstudium ein unglaublich großer Sprung ist. Die Hochschulen boten deshalb den Anwärtern auf diesen Studiengang ein sog. Mathematisches Vorsemester an. Diese Tatsache machte mir den gewagten Schritt an die Universität leichter. Ich schrieb mich ein für das Studienfach Mathematik und meldete mich zu dem Mathematischen Vorsemester an.
Das Programm des Vorsemesters begann Anfang August. Ich war sehr gespannt und auch aufgeregt, als ich am ersten Tag das Hörsaalgebäude der Universität zu Köln betrat. Der Hörsaal, in dem das Vorsemester stattfand, war riesig und füllte sich mit zahllosen Studenten und deutlich weniger Studentinnen. Ein sehr junger Dozent erschien vorne am Pult und begrüßte uns freundlich. Dann begann er unmittelbar auf die sechsteilige Riesentafel zu schreiben und entwickelte völlig fremde Welten abstrakter Objekte, für die Beziehungen definiert wurden und Regeln für den Umgang mit ihnen. Es war von Axiomen die Rede und von Ableitungen aus den Axiomen. Auch für diese wurden Regeln festgeschrieben. Jeder kleine Schritt wurde bewiesen. Der Dozent erklärte uns, dass wir in der Schule ja auch schon Beweise kennengelernt hätten. Die hätten allerdings immer auf der Anschauung beruht. Der Satz z.B., dass Parallelen sich nicht schneiden, sei anschaulich unmittelbar evident. In der Euklidischen Geometrie sei dieser Satz auch richtig. Es gebe aber andere Geometrien. In denen sei der Satz falsch.
Ich war total atemlos vor Begeisterung. Diese exakten Gedankengänge, diese ungeahnte Erweiterung dessen, was Mathematik bedeutet, diese nahezu philosophischen Fragen, die damit verbunden waren. Hat die Hochschulmathematik überhaupt noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun, wenn Parallelen sich schneiden können? Sind Parallelen überhaupt etwas Wirkliches? Auch diese philosophische Dimension faszinierte mich. Am Ende jeder Vorlesung wurden Übungsblätter mit Aufgaben an uns Vorsemestler verteilt. Ich hatte eine solche Freude am Lösen dieser Aufgaben, versank quasi in dieser faszinierenden Denkwelt, vergaß Raum und Zeit. Häufig saß ich bis Mitternacht am Schreibtisch und hatte gar keine Lust, schon aufzuhören.
Ich hatte meinen Weg gefunden. Mit großen Erwartungen und einer wahren Leidenschaft habe ich mich dann in das Studium der Mathematik gestürzt. Später kam noch die Philosophie hinzu. Für beide Disziplinen brenne ich bis heute. Durch alle weiteren Passagen meines Lebens haben sie mich begleitet. Und so begleiten sie mich auch heute hierher in diesen Hühnerstall.
