Clare bereitet in ihrer Küche mit dem imposanten Panoramafenster zum Garten hinaus eine sehr feine Zwischenmahlzeit aus gebackenem Camembert garniert mit Salatblättern, Weintrauben und grünem Spargel vor, während wir anderen es uns im Wohnzimmer bequem gemacht haben. Hugh verschwindet in seinem ausladenden Lesesessel hinter seiner groß aufgeschlagenen „The Daily Telegraph“, Johannes ist mit seinem Handy beschäftigt und ich studiere auf der Couch unter dem gigantischen Klara-Bild die Yorkshire-Fahrradkarte, die Clare für uns bei Sustrans bestellt hat. Die Route für heute Nachmittag zum „Ancient Castle of Spofforth“ gehört zum „National Cycle Network“. Sie führt über eine stillgelegte Bahntrasse, den „Wetherby-Railway-Path“.
Gleich nach dem Essen starten wir bei bestem Wetter auf unsere Fahrradtour nach Spofforth/Harrogate. Clare zeigt uns in unserer Karte auch noch einen möglichen Abstecher von Spofforth aus zu einer anderen Sehenswürdigkeit, den Plumpton Rocks. Die E-Bikes sind schnell abgeladen, die Akkus eingeklinkt, und schon radeln wir los. Unweit von Clares Haus beginnt der Railway-Path. Wie wir es aus Deutschland kennen, ist die alte Bahntrasse links und rechts von hohen Büschen und Bäumen ziemlich zugewachsen. Nur ab und zu erhaschen wir einen Blick hinaus in die Landschaft. Ebenso typisch sind die vielen kleinen Steinbrücken, die die Trasse überqueren.
Eine Gruppe älterer Schüler und Schülerinnen kommt uns entgegen. Wieder erleben wir die freundliche Aufgeschlossenheit der Bevölkerung von Yorkshire. „Hi“ heißt es unentwegt. Heute ist in England der vorletzte Schultag vor den großen Sommerferien. Vermutlich vertreibt man sich auch hier die letzte Woche des Schuljahres mit Ausflügen. Der Umfang dieses Ausflugs scheint allerdings kein Ende zu nehmen. Immer mehr junge Leute strömen an uns vorbei und rufen uns freundliche Grüße zu. Irgendwann endlich scheint ein Ende erreicht. Am Schluss geht ein Lehrer, der zu uns meint: „This is the end now. That’s all you need to fear.“ Wir fragen ihn, ob es sich um einen Schulausflug handelt. Ja, meint er, die ganze Schule sei hier unterwegs.
Nach einer halben Stunde etwa erreichen wir Spofforth, eine kleine Stadt, die zum Distrikt Harrogate gehört. An der All-Saints-Church im Zentrum des Ortes machen wir einen kurzen Stopp und versuchen die Pforte zu öffnen. Leider ist sie geschlossen. Die Kirche ist umgeben von einem ummauerten Friedhof mit uralten Gräbern. Genau hier zweigt von der Hauptstraße die Strecke ab, die Clare uns auf der Karte gezeigt hatte. Wir folgen der Landstraße, die alsbald steil nach oben führt. Endlich können wir einmal auf den Vorteil unserer Motorausstattung zurückgreifen. Im Turbo-Modus fliegen wir geradezu den Berg hinauf. Wie schön könnte es sein, jetzt die Blicke über die herrliche Landschaft von Nordyorkshire schweifen zu lassen, wenn wir nicht so höllisch aufpassen müssten auf den Straßenverkehr. Das Linksfahren stresst uns schon längst nicht mehr, aber die Tatsache, dass es überhaupt keinen Randstreifen am Straßenrand gibt, auf den man ausweichen könnte. Der Verkehr rast ungebremst dicht an uns vorbei, obwohl auf dem Straßenpflaster vor jeder Kurve in dicker weißer Farbe SLOW aufgetragen ist. Ich schreie laut auf bei jedem Fahrzeug, das mich wieder im Zentimeterabstand überholt. Endlich halten wir auf dem dünnen Rasenstreifen zwischen Fahrbahn und einem Graben an und atmen tief durch. Wir entscheiden, uns diesem Stress nicht weiter auszusetzen und umzukehren. Nur müssen wir erst einmal auf die andere Straßenseite gelangen, was nicht so einfach ist. In dem Moment rauscht ein riesiger Traktor mit Anhänger an uns vorüber.
Zurück in Spofforth suchen wir uns über kleine Nebenstraßen den Weg zur Burguine. Das Gelände des alten Castles ist von einer großen Wiese umgeben, die außen von einer Mauer umschlossen wird. Wir müssen unsere Räder ein kleines Treppchen hinauftragen, um in das Burggelände zu gelangen. Vor der Burg sitzen zwei junge Männer, die picknicken. Wir kommen später mit ihnen ins Gespräch und erfahren, dass sie schon studieren und gerade ihre Semesterferien genießen. Sie fragen uns nach unseren Plänen und staunen über die Fahrradroute, die wir uns für unseren Aufenthalt in Yorkshire vorgenommen haben. Bis Scarborough mit dem Rad? Irgendwie können sie es gar nicht glauben und zeigen ehrliche Bewunderung. In mir kommen schon wieder Zweifel auf, ob das Vorhaben einer Radwanderung durch Yorkshire wirklich eine so gute Idee gewesen ist.