Um Punkt 6:00 Uhr Ortszeit Hull (20.07.2023) werden wir von einer Lautsprecherdurchsage geweckt. Meine Uhr zeigt 7:00 Uhr. Ich erschrecke. Um 7:00 Uhr sollten wir eigentlich schon anlegen. Zum Glück schenkt uns die Zeitumstellung eine zusätzliche Stunde, um noch in Ruhe frühstücken zu können. Offensichtlich haben wir doch ein paar Stunden tief geschlafen, nachdem Johannes in der Nacht zweimal aus der engen Kabine ausbrechen und an Deck gehen musste. Beim ersten Mal habe ich ihn begleitet auf dem komplizierten Weg auf das Außendeck. Man musste zuerst wieder ganz hinauf auf Deck 12, von wo aus eine kleine versteckte Treppe hinabführte auf das sog. Sundeck. Von Sonne konnte hier mitten in der Nacht keine Rede sein. Es war stockdunkel und es blies ein scharfer Wind. Johannes atmete auf. Hier endlich hatte er das Gefühl, genug Luft zu bekommen.
Nach einer Weile sind wir in die Kabine zurückgekehrt, deren Eingangstür wir weit offen stehen lassen haben, damit genug Atemluft hineinströmen konnte. Ich selbst schlief auf der Stelle wieder ein, hörte es aber später, als Johannes noch einmal die Kabine verließ, und lag wach bis er wieder eintraf. Schließlich muss Johannes dann auch eingeschlafen sein und bis zum Morgen geschlafen haben.
Als wir uns ankleiden, weiß Johannes nichts mehr von seinen nächtlichen Ausflügen. Von Atemnot ist auch keine Rede mehr. Mit den von gestern übrig gebliebenen Proviantbroten gehen wir hinauf zur Kaffeetheke und kaufen uns zwei große Cappuccino. Die Warteschlange ist noch relativ kurz und drei junge Männer bedienen die Kunden. Die drei arbeiten aber so unfassbar langsam und unökonomisch, dass es ewig dauert, bis wir mit unseren großen Kaffeebechern hinaufgehen können auf das fast menschenleere Skydeck. Ein fantastisches Küstenpanorama unter freundlichem Sommerhimmel empfängt uns dort.
Als wir nach dem Frühstück zu unserer Kabine zurückkehren, tritt aus der Kabine gegenüber Roger aus Hull heraus, unser Radwanderfreund von gestern aus der Warteschlange. Wir hatten ihn den ganzen Abend lang an Deck nicht gesehen. Und jetzt wohnt er uns gleich gegenüber. Das ist doch wohl nicht zu fassen. Wir begrüßen einander herzlich und nehmen zugleich Abschied voneinander.
Wir steigen in unser Auto auf Deck 7 und ich setze mich gleich ans Steuer. Johannes hat keine Einwände. Er gönnt es mir, auch einmal die Erfahrung des Linksfahrens zu machen. Ich übe mich mental schon hier an Deck ein in das Mantra: Ich fahre links, linke Kurve kleine Kurve, rechte Kurve große Kurve. Endlich bewegt sich die Schlange, in der wir stehen. Eine hoch über der Hafenanlage aufragende Rampe führt uns im Halbkreis hinab zur Passkontrolle. Gleich nach dem Kontrollhäuschen bin ich fast versucht, mich in die rechte Spur der Straße einzuordnen. Wie konnte das passieren trotz des Mantras? Von nun an konzentriere ich mich angestrengt. Schon bald befinden wir uns mitten in der großen Stadt Hull. Ich folge den Anweisungen meines google-maps-Navis und wir erreichen schließlich die Autobahn. Das Linksfahren klappt perfekt. Ich fühle mich so sicher, dass ich schon bald auch die Überholspur nutze. In meinem Stolz wende ich mich an Johannes in Erwartung seiner Anerkennung. Er antwortet: „Alice, ich spüre so eine innere Unruhe.“ Da ahne ich, dass die schreckliche Nacht in der engen Schiffskabine nicht spurlos an Johannes vorüber gegangen ist.
Nach eineinhalb Stunden Fahrt erreichen wir das Haus von Clare. Schon tritt sie heraus in ihren fantastischen Vorgarten und empfängt uns mit großer Herzlichkeit.
Auch ihr Mann Hugh begrüßt uns mit einer Umarmung. Im Gegensatz zu Clare, die viel Zeit in ihrem Leben in Deutschland verbracht hat und eine deutsche Mutter hatte, spricht Hugh kein Deutsch. Wir sind also gezwungen, englisch zu sprechen, was uns mehr schlecht als recht gelingt. Wir betreten das überaus wohnliche, gemütlich eingerichtete Haus. Sofort fällt uns das große Gemälde über der Couch ins Auge, das Clares schon betagte Großmutter Klara zeigt. Clares Onkel Röbi, der Maler Robert Seuffert jun., hat dieses Porträt seiner Mutter angefertigt. Es lagerte nach dem Tod meiner Tante Margret (siehe den vorletzten Beitrag „Wer ist Clare?“) lange auf dem Dachboden meines Bruders Rolf bis es durch die Begegnung von Clare und mir hierher gelangen konnte.
Clare hat uns im ersten Obergeschoss ein helles, freundliches Gästezimmer hergerichtet, in das wir zunächst unser Gepäck bringen. Dann treffen wir unsere Gastgeber auf der Terrasse im hinteren Teil des Gartens zu einem zweiten Frühstück mit Kaffee und Gebäck. Ich bin entzückt von der Gartengestaltung. In der Mitte ein großes Quadrat perfekten englischen Rasens, ringsherum Blumenbeete. die überquellen von einer Vielzahl blühender Büsche und Stauden. Gesäumt ist der Garten von hohen alten Bäumen.
Wir haben uns so viel zu erzählen seit wir uns im April das letzte Mal gesehen haben. Das Gespräch fließt nur so dahin. Ich merke allerdings, dass die Konversation mehr und mehr an Johannes vorübergeht. Schließlich äußert er, er spüre eine solche innere Unruhe, er müsse einmal einen Spaziergang machen. Wir erklären Hugh und Clare, wie schlecht Johannes die enge Kabine auf dem Schiff bekommen ist. Sie zeigen großes Verständnis. Clare beschreibt uns den Weg zu einem nahegelegenen Park, der ideal geeignet sei, innerlich zur Ruhe zu kommen.
Ich mache mich mit Johannes auf den Weg dorthin. Es dauert nur fünf Minuten bis wir den Park erreichen. Leider kann von Ruhe nicht die Rede sein. Ein Rasenmähertraktor und ein Rasenkantenschneider veranstalten zusammen einen Höllenlärm. Wir verlassen den Park über ein Brückchen, das uns auf die andere Seite der fast bewegungslos dahinschleichenden Wharf in ein ausgedehntes Weidegebiet führt. Fast eine Stunde spazieren wir durch die Natur. Johannes geht es besser. Als wir zu Clare zurückkehren, besprechen wir mir ihr, dass Johannes und ich einfach zwischendurch schon kleine Fahrradausflüge machen. Unsere eigentliche Radwanderung durch Yorkshire soll erst in drei Tagen beginnen. Clare empfiehlt uns für den Nachmittag eine Tour nach Spofforth, wo es eine alte Burgruine zu besichtigen gibt.
Sehr interessant. Auch klar und sympathisch. Ich freue mich auf das nächste Folge.