Ich nenne sie meine „neue Cousine“. Eigentlich ist sie gar nicht verwandt mit mir. Aber wir beide besitzen eine gemeinsame Cousine. Sie heißt Ines. Nun ist die Cousinen-Beziehung nicht transitiv. Das bedeutet, wenn A Cousine von B ist und B Cousine von C ist, folgt daraus nicht zwingend, dass A auch Cousine von C ist. So verhält es sich in unserem Falle. Clare ist keine echte Cousine von mir. Sie ist die leibliche Nichte meines Onkels Walter, der von mir nur ein angeheirateter Onkel ist.
Ich bin Clare zum ersten Mal am 10. Dezember 2020 begegnet. Im Kölner Stadtanzeiger war an diesem Tag ein Artikel über sie veröffentlicht. Schon auf der Titelseite fesselte ein großes Portrait meinen Blick.
Ich blieb an dem Namen Robert Seuffert hängen. Bei diesem berühmten Maler und Kölner Kunstprofessor handelt es sich nämlich um den Vater meines Onkels Walter. Aus dem Stadtanzeigerartikel erfuhr ich, dass Clare Westmacott, die Enkelin von Klara Mehlich, in einem Blog das Kriegstagebuch ihrer Großmutter veröffentlicht.
Klara hatte das Tagebuch für ihre seit 1936 in England lebende Tochter Lotte geschrieben, zu der sie aufgrund der Kriegssituation keinen Kontakt hatte. Clare, die Tochter von Lotte, hat sich in den 90er Jahren der großen Mühe unterzogen, das in Sütterlinschrift verfasste Tagebuch ihrer Großmutter zu entziffern, abzuschreiben und ins Englische zu übersetzen. Am 10. Dezember 1940 hatte Klara das Tagebuch begonnen und genau 80 Jahre später veröffentlichte Clare diesen ersten Eintrag in ihrem Blog: klara-lotte-clare.net. Von nun an erscheint jeweils am Jahrestag der Eintragung die Veröffentlichung im Internet und zwar sowohl auf Deutsch wie auf Englisch.
Mich interessierten diese Tagebucheinträge sehr, denn aus meiner Kindheit hatte ich in Erinnerung, dass der Bruder Röbi meines Onkels Walter von seiner Mutter abgöttisch geliebt wurde, während das Verhältnis zu Walter sehr belastet war, und auch dass die Ehe von Klara Mehlich und Prof. Robert Seuffert nicht glücklich gewesen ist. Dass mein Onkel noch eine in England lebende Schwester besaß, wurde in meiner Kindheit nur am Rande thematisiert. Durch die Tagebucheinträge erhoffte ich Einblicke in die vor uns damaligen Kindern verschleiert gehaltenen Familiengeheimnisse zu erlangen, was dann auch tatsächlich geschah.
Über die Website von Clare nahm ich Kontakt auf zu ihr. Sie war begeistert, in mir eine „neue Cousine“ kennen zu lernen. Wir wechselten viele E-Mails miteinander und lernten uns immer besser kennen. Im November 2021 schließlich reiste Clare nach Deutschland, wo eine Lesung aus den Kriegstagebüchern von Klara Mehlich für sie veranstaltet wurde. Bei dieser Lesung auf dem zu Lohmar gehörenden Knipscherhof lernte ich Clare endlich persönlich kennen. Wir waren uns auf Anhieb total sympathisch. Inzwischen ist Clare schon mehrfach in meinem Hause zu Besuch gewesen. In diesem Jahr endlich sollte ich sie und ihren Mann Hugh zusammen mit meinem Mann Johannes in Yorkshire besuchen kommen. Da wir begeisterte Radwanderer sind, beschlossen wir, den Besuch bei Clare mit einer Radrundreise durch Yorkshire zu verbinden. Wir buchten die Fähre von Rotterdam nach Hull und zurück und beschlossen, hinten auf dem Auto unsere E-Bikes mit auf die Reise zu nehmen. Ganz leicht fiel uns der Entschluss zu diesem aufregenden Urlaub nicht. Die fremde Sprache, der Linksverkehr, die Ungewissheit über die Verkehrssituation für Radfahrer in England machten uns ein wenig nervös. Aber wir gingen das Wagnis mutig ein.
Wie sich die Reise dann für uns gestaltete, ist demnächst hier zu lesen.