Eva hatte das Glück der Erstgeburt. Für einige Jahre durfte sie die ungeteilte Liebe ihrer Eltern Marlies und Hans genießen. Dabei hatten diese weiß Gott andere Pläne gehabt. Marlies, die ebenfalls eine Erstgeborene war, hatte bereits ihre sechs jüngeren Geschwister mit großgezogen und freute sich, endlich unabhängig und eigenständig zu sein. Hans war vor wenigen Jahren erst aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt. Sofort hatte er sich an der Universität eingeschrieben, um die verpassten Jahre intellektuellen Lebens nachzuholen. Dann begegneten sich Marlies und Hans, verliebten sich ineinander und Marlies wurde schwanger. Das focht die beiden allerdings nicht weiter an. Hans hatte immer schon davon geträumt, zahllose Kinder in die Welt zu setzen und auch Marlies freute sich über das neue Leben, das in ihr heranwuchs.
Hans gab sein Studium auf und nahm eine Stelle als Sachbearbeiter in einer Behörde an. Sie mieteten eine Einzimmerwohnung hoch oben unter dem Dach eines Großstadthauses. Marlies kellnerte in dem Café, das sich unten in dem Haus befand. Als schließlich der Umfang ihres Leibes so zugenommen hatte, dass sie sich kaum noch zwischen den Cafétischchen hin und her bewegen konnte, gab sie die Stelle auf.
Dann endlich kam der Tag, an dem Eva geboren wurde. Die jungen Eltern waren überglücklich über das kleine Wesen. Sie schoben es stolz in dem von einer Tante geerbten Korbkinderwagen durch die Stadt und nahmen es hoch, sobald es die Augen aufschlug. Dann herzten und küssten sie es überschwänglich.
Marlies ging nun nicht mehr arbeiten. Sie widmete sich ganz dem Kind und der Hausarbeit. Hans sorgte alleine für den Unterhalt der Familie. Sein schmales Gehalt reichte allerdings nie bis ans Monatsende. Marlies wirtschaftete indessen so sparsam mit ihrem Haushaltsgeld, dass sie ab und zu einige Groschen beiseitelegen konnte. Am Monatsende hatte sie dann eine kleine Reserve für den Notfall.
Eva wuchs zu einem unbeschwerten glücklichen Kind heran. Nur war sie ein wenig scheu und weinte schnell, wenn ein Fremder sie ansprach. Zu Hause dagegen war sie sehr zufrieden. Stundenlang konnte sie sich alleine beschäftigen, auch wenn es nur wenige Spielsachen für sie gab. Genügsam und bescheiden verlangte sie niemals etwas für sich oder beklagte sich über etwas.
Als Eva ungefähr eineinhalb Jahre alt war, nahm Marlies sie einmal mit in die Stadt. Es war schon kurz vor dem Monatsende und Marlies hatte noch genau 10 Mark in ihrer Manteltasche. Wenn sie sparsam wäre, würde sie damit noch bis zum Ende des Monats auskommen. Heute wollte sie nur ein wenig an den Schaufenstern vorbeischlendern und schauen. Das Geld wollte sie auf keinen Fall anrühren.
Eva ging an ihrer Hand. Sie kamen gerade an einem Spielwarenladen vorbei, als Eva die Hand der Mutter ganz fest hielt und stehenblieb. So etwas kannte Marlies gar nicht von Eva. Verwundert schaute sie das Kind an und fragte, warum es stehen bleibe. Eva schaute stumm und mit festem Blick auf einen Gegenstand in der Auslage. Marlies folgte dem Blick des Kindes und da sah sie ihn. Er saß ein wenig vorgebeugt inmitten einer Reihe von Puppen. Sein Gesichtsausdruck war irgendwie traurig. Eva zeigte auf ihn und sagte: „Bär“. Marlies nickte und antwortete: „Ja Eva, ein Teddybär.“ Sie wollte schon weitergehen aber Eva hielt sie fest und starrte unbeirrt weiter auf den Bären. „Komm Eva, wir müssen gehen. Die Mama muss jetzt zu Hause kochen.“ „Bär haben!“ Marlies horchte auf. Noch nie hatte Eva „haben“ gesagt. Noch nie hatte Eva auf etwas bestanden, etwas für sich gefordert. Der Wunsch des Kindes rührte Marlies. Aber wie sollte das gehen? So ein Stofftier ist doch sicherlich sehr teuer. Marlies dachte an die 10 Mark in ihrer Manteltasche. Ob die wohl ausreichen würden? Aber gleich verwarf sie den Gedanken wieder. Es ging doch nicht an, dem Kind mitten im Jahr ohne Anlass ein Geschenk zu kaufen. Marlies nahm Eva an der Hand und zog sie sanft von dem Schaufenster fort. Eva machte sich ganz steif und befreite ihr Händchen aus dem mütterlichen Griff. Marlies war überrascht von der großen Kraft dieses kleinen scheuen Persönchens, das jetzt ganz nah an das Schaufenster getreten war und sein Näschen an der Scheibe plattdrückte. „Sollen wir mal reingehen?“ fragte sie das Kind. Eva nickte stumm.
Die beiden betraten den Spielzeugladen. Die Regale an der Wand quollen über von Spielsachen aller Art. Eva würdigte die lockende Pracht jedoch keines Blickes. Ein Herr im dunklen Anzug erschien hinter der Theke und sprach zuerst Eva an: „Na, mein kleines Frollein? Was darf‘s denn sein?“ Eva senkte das Köpfchen zwischen ihre hochgezogenen Schultern und Marlies glaubte schon, sie würde jetzt anfangen zu weinen. So ging es immer los bei Eva, wenn jemand sie ansprach. Zuerst zog sie die Schultern hoch, ließ ihr Köpfchen nach vorne sinken und dann begannen ihre Schultern zu zucken. Aber diesmal liefen keine Tränen. Eva sagte ganz leise: „Bär“ und schaute vorsichtig auf zu dem Herrn hinter der Theke. Marlies erklärte: „Sie haben im Schaufenster zwischen den Puppen einen Teddybär sitzen.“ „Oh ja, der ist ein besonderes Stück. Allerdings nicht billig.“ „Was soll er denn kosten?“ „15 Mark.“ Marlies erschrak. Das war viel zu viel. „Haben sie vielleicht noch andere Teddybären, die weniger kosten?“ „Ja natürlich.“ Der Herr bückte sich und zog aus dem Fach unter der Theke drei unterschiedliche Modelle hervor. Er legte sie nebeneinander auf den Tresen. Marlies nahm einen Teddybär nach dem anderen und hielt ihn dem Kind hin. Eva schüttelte jedes Mal entschieden den Kopf. Was war da zu machen? Nichts lag näher, als dem Kind seinen Wunsch abzuschlagen. Aber alles in Marlies sträubte sich dagegen. Sie bat den Verkäufer, das besondere Stück aus dem Schaufenster zu holen. Der schob umständlich eine Glasscheibe beiseite, angelte den Bären aus der Auslage heraus und setzte ihn auf den Tresen neben die drei anderen Bären. Auch hier wirkte er ein wenig traurig und verloren. Die Ohren und die Schnauze waren etwas heller gefärbt als das mittelbraune, leicht struppige Fell seines restlichen Körpers. Seine Mundwinkel zeigten schräg nach unten und seine Augen schienen irgendwie in eine weite Ferne zu blicken. Der Kopf und die Gliedmaßen waren frei beweglich, anders als bei den drei abgelehnten Bären, die aus einem Stück gearbeitet waren und gar nicht sitzen konnten. Eva streckte die Arme nach ihm aus. Der Verkäufer reichte ihr den Auserwählten hin und Eva nahm ihn entgegen wie eine Mutter ihr Kleinkind halten würde. Sie legte ihre Hände rechts und links unter den Gliederärmchen an seinen Leib. So hielt sie ihn zuerst lange hoch und schaute ihm in die Augen. Dann drückte sie ihn an sich und umschlang ihn inniglich mit ihren Armen.
Marlies zerriss es das Herz, diese Szene heißer Liebe mit ansehen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass sie dem Kind den geliebten Bären nicht kaufen konnte. Ihr Geld reichte einfach nicht aus und außerdem durfte sie es gar nicht ausgeben. Was würde Hans dazu sagen? Dann plötzlich schob sie alle Gedanken beiseite und griff spontan in die Manteltasche. Sie zog den Zehnmarkschein heraus und legte ihn auf den Tresen. „Das ist alles, was ich noch habe für diesen Monat.“ Der Verkäufer, der ebenfalls gerührt war von der Szene, kam Marlies entgegen. „Zahlen Sie die restlichen fünf Mark ausnahmsweise im nächsten Monat.“ Marlies Gedanken gingen noch einmal kurz die Situation durch. Wovon soll ich in den nächsten Tagen Lebensmittel kaufen? Werde ich denn nächsten Monat die fünf Mark einsparen können? Dann ließ sie diese Fragen offen und stimmte dem Vorschlag des Herrn im Anzug zu.
Auf dem ganzen Heimweg hielt Eva immer wieder den Bären hoch und betrachtete ihn, um ihn gleich darauf wieder an sich zu drücken und zu herzen. Zu Hause angekommen lege sie ihn in den Puppenkinderwagen und deckte ihn liebevoll zu. Die Babypuppe musste Platz machen. Als Hans am Abend von der Arbeit heimkam, lief Eva ihm sofort entgegen und hielt ihm den Bären hin. Der wunderte sich sehr. „Ja ist denn heute Weihnachten oder Geburtstag?“ Marlies erzählte ihm die ganze Geschichte von Evas wundersamer Verwandlung. Hans schaute stolz auf sein Töchterchen und hob sie mitsamt dem Bären auf seinen Schoß. „Da hast du dir etwas sehr Feines ausgesucht, mein Evchen.“ Er lobte Marlies für ihre spontane Kaufentscheidung und erklärte sich einverstanden, an den letzten drei Tagen bis zum Monatsende nur noch Kartoffeln zu essen.
Der Bär behielt seinen ersten Platz unter Evas Spielsachen durch ihre ganze Kindheit. Sie nannte ihn „der Arme“, weil er so behütenswert auf sie wirkte. Eva liebte es, beim Hochnehmen seinen festen Leib und seine beweglichen Arme zu spüren. Es fühlte sich an wie bei einem echten Baby. Der „Arme“ wurde so oft hochgenommen und gedrückt, dass er im Laufe der Zeit ganz abgewetzt war. Mehrfach flickte Marlies seine kahlen Stellen. Schließlich strickte sie ihm einen Ganzkörperanzug aus hellbrauner Wolle. Aus dem schauten nur der Kopf und die zwei mit grünkariertem Stoff überzogenen Vorderpfoten heraus. Die Glasaugen hatte Marlies schon längst durch zwei mit einem Kreuzstich aufgenähte runde Filzstückchen ersetzt. Der Rest des Gesichtes blieb ohne kosmetische Reparaturen. Es alterte auf ganz natürliche Weise.
Heute sieht der Arme aus wie ein uraltes Männchen. Das Fell in seinem Gesicht ist fast vollständig abgewetzt. Nur seine helle Schnauze zeigt noch an einigen Stellen feinen Flaum. An einer Wange ist ein kleines Loch entstanden und das linke Ohr sitzt nicht mehr ganz fest am Kopf. Seine Filzaugen schauen immer noch so verloren wie ganz früher seine Glasaugen und sein Gesichtsausdruck ist traurig wie eh und je. Eva hat ihm einen Ehrenplatz eingerichtet oben auf dem antiken Spiegelschrank, den sie von Marlies geerbt hat. Wenn ihre Enkelkinder sie besuchen, dürfen sie den Armen manchmal vorsichtig hochnehmen. Dann setzt sie ihn aber schnell wieder auf den Schrank. Der Arme ist überaus behütenswert.