Baggersee

Seesüchtig

Seesüchtig. Ich habe ein Wort gefunden, mit dem sich der seltsame Sog beschreiben lässt, der mich regelmäßig überkommt. Ich bin seesüchtig.

Es dämmert schon. Ein anstrengender schwüler Spätsommertag liegt hinter mir. Ich bin matt und steif von der Arbeit auf der Baustelle. Mein Patenkind Britta erwartet bald die Geburt ihres ersten Kindes und das Haus, in dem die Kleine aufwachsen soll, ist noch lange nicht bezugsfertig. Es ist Not am Mann. Ich bin hingefahren und habe den ganzen Tag Wände angestrichen.

Zu Hause angekommen habe ich mich gleich ins Bett fallen lassen und bin eingeschlafen. Nach einer halben Stunde schon erwache ich und stelle mir vor, wie gut es meinem geschundenen Leib täte, durch das weiche Wasser meines geheimen Baggersees zu gleiten. Zuerst trete ich ans Dachfenster und sehe nach dem Wetter. Von hier aus kann man weit bis hinten über die Felder schauen. Der Himmel ist düster. Für heute Abend sind Gewitter vorhergesagt. Die letzten Tage sind sehr heiß gewesen. Auch jetzt ist es immer noch schwül. Es sieht nicht nach Gewitter aus, aber es rinnen Regentropfen über die schräge Glasfläche. Schade. Fast verwerfe ich den Gedanken an ein Bad im See.

Ich erhebe mich, schlüpfe in meinen schwarzen Sportbadeanzug, streife mein weites Badeseesommerkleid über, greife die Stofftasche, die mit Schwimmbrille und Handtuch gepackt immer bereit hängt am Treppengeländer, und begebe mich zum Fahrradschuppen. All diese Tätigkeiten laufen ab, ohne dass ich mich eigens zu ihnen entschließen muss. Es gibt auch keinen Willensakt, jetzt doch trotz des Regens aufzubrechen zum See. Ich sitze schon auf dem Fahrrad, als mir bewusst wird, dass es mich wieder einmal wie von Geisterhand hinzieht zum See. Nach wenigen hundert Metern erreiche ich den Feldweg. Wie sehr ich diese Fahrt zum See liebe. Es weitet sich plötzlich der Blick, wenn ich aus den Häuserzeilen hervorkomme, und ich schaue auf eine riesige Fläche, die weit hinten von einer Linie unterschiedlicher Laubbäume begrenzt wird. Das Feld ist gerade frisch gepflügt worden. Weizen hat hier gestanden, danach kurze Stoppeln, jetzt sieht man nur dunkelbraune locker aufgebrochene Erde. Die reine Potenzialität. Fruchtbarkeitspotenzial. Symbol für Behausung, für Heimat, für Ermöglichung des Lebens schlechthin. Ich lasse meine Augen weiden auf dem saftigen Boden. Der Anblick sättigt meine Seele. Überall Krähen. Sie picken in den Furchen herum, fliegen auf, lassen sich wieder nieder. Sie sättigen sich an den Überresten des Sommers. Überall verstreut sehe ich sie in der Silhouette mit halboffenem Schnabel sitzen. Einzelne spazieren auf dem Weg herum und schauen mich an, während ich mich ihnen mit dem Fahrrad nähere. Erkennen sie mein Gesicht wieder?

Ich verlasse den Feldweg und biege nach links ab in die kleine Allee, von der der geheime Einstieg in das Seegelände abgeht. Ich schließe mein Rad wie immer an einen Baum, überquere die Straße, auf der fast nie ein Auto fährt, und zwänge mich zwischen Brombeersträuchern hindurch auf den steil bergan führenden Trampelpfad. Der Stacheldraht, der den Zugang zum See versperren soll, ist von jemandem aufgetrennt und beiseite geschoben worden. Das Schwimmen im See ist verboten. Es sind mehrfach Menschen beim Baden ertrunken. Ich setze mich über das Verbot hinweg.

Ich erklimme den Hügel und halte ganz oben kurz inne. Von hier aus sehe ich den tief unten liegenden riesigen See in seiner vollen Ausdehnung. Ich lasse die weite glatte Wasserfläche auf mich wirken und den üppig bewachsenen Hügelwall, der ihn umgibt. Wie schön es hier ist. Es geht ein Bann aus von diesem Ort.

Der steinige Weg zum Seeufer führt steil bergab. Ich wähne mich heute ganz alleine mit dem See. Ich habe mich schon auf unsere Zweisamkeit gefreut. Doch muss ich feststellen, dass in meiner Bucht jemand am Ufer sitzt. Ein Herr. Ein älterer Herr. Im Nieselregen. Einige Meter hinter ihm steht ein Fahrrad an einen Baum gelehnt. Ich grüße ihn und frage: „Ist es nicht wunderschön hier?“ Er antwortet mit einem unverständlichen Murmeln. Ich beginne, mich auszukleiden. Ich streife das Sommerkleid ab, schlüpfe aus meinen Latschen, hole die Schwimmbrille aus der Schachtel, bringe meine Gleitsichtbrille darin unter und lege die Schwimmbrille an. Ich schichte mein Hab und Gut auf einen kleinen Stapel. Der Herr bedeutet mir mit unverständlichen Lauten und eindeutigen Gesten, dass ich doch wegen des Regens meine Sachen lieber unter den Baum legen solle, an dem sein Fahrrad lehnt. Ich bedanke mich und transportiere den Stapel ins Trockene.

Ich schreite zielstrebig und freudig auf das Ufer zu. Obwohl bis nahe an den Rand hohe Unterwasserpflanzen zur Wasseroberfläche aufragen, gleite ich unbeirrt hinein in die glatte Fläche. Ich spanne alle Muskeln an und bleibe gestreckt an der Oberfläche, bis ich durch die Brille erkenne, dass die Wasserpflanzen in unsichtbare Tiefen unter mir verschwinden. Jetzt setze ich ein mit den Schwimmbewegungen. Brustschwimmen ist mein Stil. Kräftig stoße und ziehe ich mich voran. Unter Wasser öffne ich die Augen. Das tiefe Blau-Grün ohne Grund ist meine geliebte Unendlichkeit. Meine absolute Freiheit. Das pure Sein. Nur meine regelmäßig nach vorne schießenden weißlich schimmernden Arme heben sich immer wieder ab von dem blau-grünen Universum. Sie vergewissern mich meiner Verschmolzenheit mit dem abgrundtiefen Nichts.

Ich schwimme hinüber zum gegenüberliegenden Ufer und nehme dort angekommen gleich wieder Kurs auf meine Bucht. Auch die Zeit dehnt sich ins Unendliche und löst sich schließlich ganz auf während der monotonen Fahrt. Mein Blick schaut leer in die schimmernde Abgründigkeit und fühlt mein Kind. Mein Kind, das nicht mehr ist. Es verschwand in den Tiefen des Phewasees in Nepal und tauchte lebendig nicht wieder auf. Ich bin ihm hier in seinem Element ganz nah, meinem Christoph. Hautnah umgibt er mich. Ich bade in seiner Präsenz.

Die Gedanken und Gefühle ziehen sich mehr und mehr zurück aus meinem Bewusstsein. Es bleibt einzig die regelmäßige Bewegung ohne Wahrnehmung ihrer. Dann tauchen die Wasserpflanzen wieder auf aus der Tiefe. Ich spanne wieder alle Muskeln an und lasse mich gleiten, bis ich den steinigen Boden unter mir sehe. Ich stelle mich hin, schiebe die Schwimmbrille auf die Stirn hoch und halte Ausschau nach dem älteren Herrn. Ob er wohl noch da ist? Hat er vielleicht meinen Stapel bewacht?

Er sitzt noch auf seinem Platz im Nieselregen. Er hebt einen Daumen hoch, um mir seine Anerkennung für die sportliche Leistung auszudrücken. Ich antworte: „Das war schön.“ Ich begebe mich zu meinem Stapel und frage ihn, ob er kein Deutsch spreche. Er bestätigt dies durch Zeichen. Ich versuche noch auf Englisch und auf Französisch ihn anzusprechen. Er versteht auch diese Sprachen nicht. Dann frage ich, woher er denn komme. „Russland“ antwortet er. Ich zeige mich beeindruckt und nicke ihm zu. Dann trockne ich mich ab und werfe mein Sommerkleid wieder über. Ich verzichte darauf, den Badeanzug unter dem Kleid auszuziehen. Das käme mir in dieser besonderen Situation unpassend vor so unmittelbar unter den Blicken des russischen Herrn. Ich schlüpfe wieder in meine Latschen, tausche die Schwimmbrille mit der Gleitsichtbrille und gehe auf den Herrn zu. Ich reiche ihm die Hand und sage: „Auf Wiedersehen“. Er erhebt sich und drückt fest meine Hand. In seinen Augen sehe ich Tränen. Ich wünsche ihm alles Gute und wende mich zum Gehen. Da höre ich ihn hinter mit „Tschüss“ sagen. Noch einmal drehe ich mich zu ihm um und winke ihm zu.

Ich steige wieder den steinigen Weg hinauf und lasse den See mit dem Russen im Nieselregen hinter mir. Ich verlasse das Gelände, besteige mein Rad und rolle durch die Allee, entlang dem Feldweg mit den Krähen und schließlich zwischen die Häuserzeilen. Ich bin wieder zu Hause. Die Mattigkeit und Steifheit ist verschwunden. Ich denke an den traurigen Herrn am See. Auch er hat viel verloren. Ob auch er süchtig ist nach dem See? Seesüchtig?

30.08.2017

Alice Schopp

2 Gedanken zu „Seesüchtig

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