Erwachende Schöne

Erwachende Schöne

Hell leuchtend, fast golden beherrscht eine mit scharfen Konturen gezeichnete weibliche Schönheit das Bild. Ein breiter schräg in die Szenerie fallender Lichtstreifen  hebt sie heraus aus dem blauen Dunkel in ihrem Rücken und dem blassblau verschwommenen Hintergrund mit roten Tupfen rechts. Die Schöne posiert in nachdenklicher Haltung mit angewinkeltem Arm und lässig am Hinterkopf liegender Hand wie vor einem Spiegel. Irritierend, das blasse Spiegelbild über ihr, das innerhalb des Lichtstreifens in Erscheinung tritt. Es steht auf dem Kopf. Bei näherem Hinsehen erkennt der Betrachter, dass es gar nicht seitenverkehrt ist. Es ist kein Spiegelbild. Es ist ein nach oben gedrehtes blasses Abbild unserer Schönen. Es scheint oben aus ihrem Kopf zu erwachsen, aus dem auch, wie wir es von Karl Holtschneiders Portraits schon kennen, rätselhafte plastische Formen ragen, die als Manifestationen von Gedankenkonstruktionen gedeutet werden könnten.

Der Hell-Dunkel-Kontrast des Aquarells legt die Assoziation von Tag und Nacht nahe. Der gleißende Lichtstreifen fällt wie grelles Tageslicht ins Dunkel der langsam verblassenden Nacht. Die sinnende Schöne im zarten Hemdchen mit hauchdünnen Trägern scheint gerade aus dem Schlaf zu erwachen, noch ganz umfangen von Traumbildern, die sie zu bewahren versucht.  Zuallererst scheint ihre am Hinterkopf liegende Hand das blasse Abbild ihrer selbst festhalten zu wollen, das am Scheitel mit ihr verbunden ist. Die Verknüpfung wird unterstrichen durch jeweils einen roten Punkt. Ich schaue es mir genauer an, dieses Traumbild ihrer selbst. Ist es ein einfaches verblasstes Duplikat der Schönen? Ich stelle das ganze Bild auf den Kopf und betrachte das Abbild einmal als die Hauptfigur. Erst jetzt fällt mir auf, dass das Gesicht nicht nur zarter und weicher gezeichnet ist, es schaut auch weicher als das Original, das eher stolz und kühl wirkt. Die Blasse strahlt eine warme Freundlichkeit aus. Die rot gefärbten Lippen sind leicht geöffnet und lächeln zart. Ihr Blick ist nicht auf den imaginären Spiegel gerichtet, ihre Haltung nicht Pose, sie wirkt anmutig und natürlich.

Ich stelle das Bild wieder zurück auf die Füße und betrachte erneut die erwachende Schöne. „Was sind das für Bilder in meinem Kopf?“ scheint sie sich zu fragen. Der dunkelblaue Hintergrund in ihrem Rücken mutet wie das Innere eines Kleiderschrankes an mit auf Bügeln hängenden Gewändern. Deutlich hebt sich vor diesem Dunkel eine traurig blickende männliche Gestalt ab. Begehrt er die Schöne ohne sie erlangen zu können? Über seinem Kopf scheint auch er sich in einem verschobenen Abbild zu verdoppeln, nur dass an Stelle des Kopfes ein Phallus aus dem Kragen ragt. Auch aus dem Gewand daneben, erhebt sich oben aus einer vaginal anmutenden Öffnung eine ähnliche Form. Die dunkelblaue Traumszenerie im Rücken der Schönen symbolisiert die sexuelle Begehrenswelt mit all ihrer sinnlichen Rauschhaftigkeit und Zudringlichkeit. Im hellen Schein des Lichtes jetzt scheint die Schöne dem vielleicht ambivalent erlebten sexuellen Traum entronnen zu sein, dessen allmähliches Verschwinden und Verblassen im verschwommenen hellblauen Nebel des rechten Hintergrundes angedeutet wird. Auch hier heben sich bei näherem Hinsehen Figuren ab, freundlichere, entrücktere, die kein Begehren ausstrahlen.

All diese Traumbilder schaut die Erwachende mit ihrem inneren Auge. Wie in einem Spiegel blickt sie reflexiv auf sich selbst. Sie schaut zurück auf die Szenen, die ihr Unbewusstes hervorgebracht hat in der Nacht. Die verschiedenen Figuren, die ihren Auftritt hatten im nächtlichen Traum, sind jetzt in den Hintergrund gerückt. Was bleibt und mit hineingenommen wird in den hellen Tag, ist ihr Selbstbildnis, das Bild einer souverän in sich ruhenden, von den nächtlichen Bedrängungen befreiten unabhängigen Schönen.

Köln, den 08.08.2022

Alice Schopp

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