Ein Baum voller Eier

Ein Baum voller Eier

Links unten ein nachdenklich schauendes weibliches Gesicht. Ihr Blick ist leicht verschleiert durch ein durchsichtiges bräunlich-grau gemustertes Tuch, das Karl Holtschneider scharf abgegrenzt durch eine dunkelgraue Linie über ihr Gesicht legt und auch noch in den Bildteil unten rechts weitergehen lässt. Die Farben dieses Schleiers bilden den Hintergrund im oberen Bildteil und nehmen ihn so mit hinein in die Verschleierung, die das ganze Bild wie eine Traumszenerie wirken lässt. Was sich davor im Vordergrund abspielt, scheint das Hauptmotiv der gesamten Bildkomposition zu sein. Ein Baum voller Eier. Eine rätselhaft anmutende Zusammenstellung. Das Ei als Motiv taucht auch unten rechts zweimal auf, einmal als aufgeschlagenes rohes Ei mit flüssigem gelbem Eidotter und ein zweites Mal halb aufrecht in eine Schale gesetzt ein aufspringendes Ei, aus dem sich überraschenderweise nicht ein Tier zwängt, sondern ein Zweiglein, das ein Ableger des Baumes darüber sein könnte. Was hat das nur zu bedeuten? Der Baum scheint Eier als seine Früchte hervorzubringen, die wiederum neue Bäume gebären. Und alles das wiederum scheint aus dem Kopf der jungen Frau zu wachsen, deren Vorstellung vermutlich diese Bilder hervorbringt. Wunschtraumwelt, so drängt es sich dem Betrachter auf. Was ist es, worum ihre Sehnsucht kreist?

Das Ei als das beherrschende Bildmotiv gibt uns einen Hinweis. Es ist in zahllosen Kulturen seit Alters her Symbol von Leben und Fruchtbarkeit. Als eine Form ohne Anfang und Ende steht es auch für den Kreislauf der Natur, für Werden und Vergehen und erneute Verjüngung und Wiedergeburt aus dem Untergang.

Als Lebenssymbol sind auch die jungen Baumtriebe mit ihren grünen noch gar nicht voll entfalteten Blättchen interpretierbar, ebenso die kräftigen, saftig braun gefärbten Äste und Zweige. Das alles zeugt von der Vitalkraft der lebendigen Natur. Auch das flüssige Eidotter, das für die embryonale Entwicklung von Lebewesen steht, gehört hinein in diesen Deutungszusammenhang. Die Fortpflanzungssymbolik dieser eindrucksvollen Bildkomposition von Mensch, Tier und Pflanze umfasst die gesamte Vielfalt des Lebendigen und trennt nicht nach Kategorien. Eier und Äste sind kunstvoll und zugleich wie natürlich miteinander und genauso mit dem menschlichen Kopf verwoben. Ersehnt sich die Nachdenkliche diese Einheit mit allem Natürlichen und dessen lebendiger Fruchtbarkeit? Trägt sie selbst vielleicht schon eine Leibesfrucht in sich und erlebt sich in ihren Gedankenträumen als Einheit mit der gesamten lebendigen Natur?

Wenn da nur nicht diese Schale wäre, gleich neben ihrem Kopf. Oder ist es ein Blumentopf? Dieses Gefäß ist das einzige Artefakt in Holtschneiders Bild voller lebendiger Naturgegenstände. Mit seiner runden Form symbolisiert auch es das ewige Ineinanderfließen von Neubeginn und Ende. Nur ist es keine Natur. Es ist menschengemacht. Mir drängt sich der Begriff der Petrischale auf, zumal einer der beiden Baumäste dort herauswächst und das baumgebärende Ei sich darin befindet. Das Gefäß könnte somit die Technik symbolisiseren, mit deren Hilfe der Mensch sich der Natur bemächtigt und in ihre Prozesse eingreift. Das kann Segen oder auch Fluch bedeuten. Die Petrischale kommt uns eher segensreich vor, insofern sie der blockierten Natur zur Fruchtbarkeit verhilft. Aber möglicherweise ist im Segen schon der Keim des Fluches enthalten, so wie das Umgekehrte ebenfalls richtig ist. Es lässt sich nicht eindeutig trennen, welche Eingriffe des Menschen in die Natur segensreich sind und welche nicht. Die Manipulierbarkeit birgt potenziell immer schon das Monströse. Welche Ungetüme können möglicherweise gezeugt werden in der Schale? Ist nicht auch das baumgebärende Ei schon äußerst befremdlich? Beim genaueren Hinsehen kommt es mir jetzt sogar verdorrt und abgestorben vor. So ist das Traumbild der jungen Nachdenklichen eventuell sogar ein Alptraumbild? Ist der gemusterte Schleier womöglich in diesem Zusammenhang zu deuten? Der Traum von dem Babyglück aus der Petrischale ist überschattet, überschleiert von der Sorge um ein mögliches Entgleisen des Prozesses, mit dem der Mensch in die Natur eingreift. Fährt nicht auch ein unheilkündender Wind von links nach rechts durch das Bild und beugt die Äste? Sie kommen mir unter dem neuen Blickwinkel gar nicht mehr so jung und kräftig vor, die Blätter nicht mehr so frisch grün. Auch das aufgeschlagene Ei erscheint in dem neuen Licht als Sinnbild des Unheils. Die ganze überschleierte Szenerie wirkt widernatürlich und beängstigend. Nur in der Ecke unten links die blutrote Stelle im Nacken der Nachdenklichen bildet einen optischen Gegenpol zu dem eher düster gefärbten Rest des Bildes. Erinnert sie nicht an eine Vulva? Das würde sich fügen in den hier entwickelten Deutungszusammenhang. Denn die Vulva als Symbol für Fruchtbarkeit und den natürlichen Zeugungsakt würde auch inhaltlich ein Gegengewicht bilden zu der Widernatürlichkeit der Szenerie rechts.

Alice Schopp

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