Eine unnahbar wirkende Schöne mit alabasterweißem Leib fesselt meinen Blick. Stolz reckt sie ihr filigranes Kinn nach rechts und zeigt uns ihr Gesicht im Halbprofil. Von oben fällt ein Lichtschein schräg auf sie herab, der ihre nackte Gestalt streift und bis hinunter auf ihren Rücken reicht. Die Anmut ihrer Erscheinung steht im Widerspruch zum Unmut ihres Gesichtsausdrucks. Ihre Mundwinkel weisen nach unten, ihr Blick ist mürrisch und abweisend.
Das Haar der Schönen ist fast ebenso weiß wie ihre Haut und lässt sie wie eine Statue erscheinen. Es ist zu einer strengen Frisur nach hinten gekämmt, gebändigt und beherrscht wie sie selbst. Ihr intensiv rot gefärbter Mund korrespondiert mit dem Rot der Tulpe, die sie lässig mit zwei Fingern hält und schlaff hinter ihrer Schulter herabhängen lässt. Die Hand sieht seltsam aus. Es fehlen zwei Finger, an deren Stelle die Hand mit dem Rücken verschmilzt und auf einen handschriftlichen Text zu zeigen scheint, der wie auf den Alabasterleib projiziert wirkt. Ein rotes Blütenblatt schmückt den Rand und lässt an einen Liebesbrief denken. Auf einem Fetzen Papier rechts daneben findet sich ebenfalls ein handschriftlicher Text. Ein Antwortbrief? Ihm fehlt ein Liebessymbol.
Es gehen seltsame Schnitte durch das Bild. Der Bildausschnitt mit der Schönen im Zentrum zeichnet sich durch einen tief dunklen Hintergrund aus. Dagegen wirkt der helle Bildstreifen rechts wie ausgesperrt. Rechts unten rückt diese andere Welt so gelb wie der Lichtreifen oben an die Schöne heran. Ein unscharf gezeichnetes glücklich lächelndes Paar blickt dort wie durch ein Fenster hinein. Die beiden scheinen sich nach oben aufzulösen wie ein zerfallendes Traumbild. Vor ihnen richtet sich eine Blume auf, die ihre üppige blass rot gefärbte Blüte über ihren Köpfen entfaltet. Auch sie löst sich nach oben hin auf. Ein zart angedeutetes freundliches Gesicht schaut oben heraus. Sehen wir in dieser Szenerie den Traum vom Liebesglück zerrinnen? Auch im Bildausschnitt der Schönen lassen sich Gesichter entdecken. In ihrem Nacken, teilweise verdeckt durch ein rätselhaftes stahlblau gefärbtes Gebilde, hebt sich aus dem Dunkel ein Gesicht ab, das die Schöne selbst sein könnte. Darüber, fast ganz vom Hintergrund verschluckt, erscheint ein düster blickendes männliches Gesicht mit einer Kopfbedeckung in dem uns schon vertrauten Rot. Hat die unglückliche Verfassung der Schönen vielleicht mit ihm zu tun?
Ich nehme das rätselhafte stahlblaue Objekt noch einmal in näheren Augenschein. Es scheint mir, als greife es wie mit einer Kralle in den Nacken der Schönen. Bei noch näherem Hinsehen schält sich aus dem Blau ein gestählter männlicher Torso heraus. Sitzt ihr der Tod im Nacken? Das würde korrespondieren mit der leichenhaften Blässe der Schönen, der verstörenden halb zerfallenden Hand und der welken Tulpe.
Alice Schopp
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