Von Bad Karlshafen nach Holzminden (Etappe 3)

Mittwoch, der 22.06.2022. Im hübschen Frühstücksraum von „Haus Weserblick“, der altehrwürdigen Villa am Weserufer, treffen wir auf zwei Damen und ein Ehepaar, die ebenfalls den Weserradweg fahren. Das Ehepaar stammt aus Osnabrück. Sie sind gestern mit verschiedenen Regionalzügen nach Hann. Münden gereist und haben dafür das 9 Euro-Ticket genutzt. Sie berichten, sie seien fast den ganzen Tag unterwegs gewesen. Oft hätten sie den Anschlusszug verpasst. Einmal habe es keinen Aufzug gegeben an ihrem Bahnsteig. Die beiden Damen kommen aus Süddeutschland. Auch sie sind mit dem 9-Euro-Ticket an den Startpunkt des Weserradweges gekommen. Ich frage, ob es für die Fahrräder ebenfalls ein vergleichbares Ticket gebe. Ja, heißt es, es gebe ein 6 Euro-Ticket. Im Internet finde ich dazu keinerlei Information. Wie sich später herausstellt, als wir nämlich unsere Rückreise per Bahn planen, gibt es für die Räder nichts dem 9 Euro-Ticket Vergleichbares. Das 6-Euro-Ticket gilt nur einen Tag lang, allerdings auch für den Nahverkehr in ganz Deutschland.

Wir starten um 10:00 Uhr und bleiben für einige Kilometer auf der rechten Weserseite. In Würgassen, einem Ortsteil von Beverungen, der ganz nah am Dreiländereck zwischen Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen liegt, setzen wir mit einer dieser berühmten Gierseilfähren über nach Herstelle, dessen beide imposanten Gebäude wir schon vom gegenüberliegenden Ufer aus über dem Ort thronen sehen konnten, nämlich die Burg Herstelle und die Benediktinerabttei vom heiligen Kreuz. Für 1,50 Euro pro Person befördern uns zwei professionelle Fährmänner über den Fluss.

Gierseilfähre von Würgassen nach Herstelle (mit Burg und Benediktinerkloster)

Eine halbe Stunde später schon erreichen wir Beverungen, wo die Bever in die Weser mündet. Wir verlassen die Radroute und fahren in die historische Stadt hinein, deren Geschichte auf die Zeiten Karls des Großen zurückgeht. Als wir den zentralen Platz in der Stadtmitte passieren, treffen wir die beiden Damen aus dem Frühstücksraum wieder. Sie sitzen unter einer alten Linde und studieren ihr Tourenbuch. Ein wenig später sehen wir auch das Osnabrücker Ehepaar. Die beiden werden uns später auf der Strecke wieder überholen. Wir besorgen in einer Bäckerei ein paar Teilchen für Johannes als Mittagsüberbrückung und begeben uns wieder auf den Radweg, der sich bis zum „Feriendorf Wehrden“ ganz nah an der Weser entlangschlängelt. Schon von Weitem sehen wir, dass es hier einen schön angelegten Uferpark gibt. Ein Restaurant lädt in seinen Biergarten ein, den wir aber links liegen lassen. Wir suchen eine der bequemen Liegebänke aus, die uns immer wie ein öffentlich aufgestelltes Ehebett vorkommen. Dort machen wir es uns gemütlich und genießen den Ausblick auf den Fluss. Zum ersten Mal sehen wir Schiffsverkehr auf der Weser. Ein großes Ausflugsschiff gleitet an unserer Bettstatt vorbei. Johannes verspeist schon seinen ganzen soeben gekauften Proviant, obwohl es erst 12 Uhr ist. Ich will noch warten mit meinem Käsebrötchen vom Frühstückstisch. Wenn die Unterkunft die Brötchen schon abgezählt auf dem Tisch hinstellt, habe ich keine Skrupel, eins der Brötchen für unterwegs mitzunehmen. So ein Hasenbrötchen ist für mich die attraktivste Mittagsüberbrückung.

Gemütliche Liegebank im Uferpark von Beverungen-Wehrden

Gegenüber schauen wir auf das imposante Waldgebirge namens Solling. In seinen rotleuchtenden Buntsandstein hat sich die Weser tief hineingegraben. Ich nutze die Pause, um in meinem Reisetagebuch weiterzukommen. Um uns herum lagert eine ganze Schulklasse mit ihren Fahrrädern auf der Wiese. Als die Jugendlichen sich zum Aufbruch bereit machen, verlassen auch wir unsere gemütliche Liegeposition und packen unsere Sachen. Wir sprechen ein Grüppchen der Kinder an und fragen, bis wohin sie denn heute noch fahren werden. Es hieß: „Wir kommen aus Höxter.“ Eine seltsame Antwort. „Und was ist Euer Ziel?“ „Wir fahren zurück nach Höxter.“ „Ach“, kommentiere ich, „wohnt ihr da in der Jugendherberge?“ „Nein“, schaut man uns verständnislos an, „wir sind vom KWG.“ Ich meine zu Johannes, das bedeute vielleicht Karl-Wilhelm-Gymnasium. Die Lehrerin, die uns schon die ganze Zeit zugehört hatte, lacht und verbessert: „König-Wilhelm-Gymnasium, eine sechste Klasse“. Ich äußere mich anerkennend über ihr Engagement. Ich weiß noch aus eigener Lehrerinnenerfahrung, wie störanfällig und anstrengend so ein Klassenausflug per Rad ist. Sie freut sich über die Anerkennung und beeilt sich, den letzten schon abrauschenden Schülern hinterher zu fahren. Noch eine geraume Zeit bewegt sich das jugendliche Feld vor uns her.

Weserradweg von Wehrden nach Höxter, vorneweg eine 6. Klasse vom KWG Höxter

Erst an der Brücke über die Nethe, die bei Godelheim in die Weser mündet, verlieren wir die Schulklasse, weil dort ein großes Landschaftsfenster mich lockt, meine ganze Reiseeuphorie und Landschaftsfreude in Form einer Fensterrahmenpose auszudrücken.

Reiseeuphorie und Landschaftsfreude im Fensterrahmen an der Nethemündung

Ein zufällig gerade vorüberfahrender Radwanderer bietet an, uns beide einmal zusammen abzulichten. Das nehmen wir gerne an.

An der Nethe-Mündung auf dem herrlichen Weserradweg

Vor Höxter kommen wir an einer ausgedehnten Seenplatte vorbei, an der ein Campinggelände angesiedelt ist, das schließlich endet und den Blick freigibt auf einen großen See mit attraktivem Sandstrand, der zu eintrittsfreiem Baden einlädt. Ich muss Johannes ein wenig überreden, dort für ein erfrischendes Bad im See anzuhalten. Die Badesachen habe ich immer griffbereit in einer Außentasche stecken. Johannes verzichtet auf die Schwimmeinlage. Ich genieße sie total.

Badepause am Nordstrand des Godelheimer Sees

Als wir in Höxter eintreffen, droht unsere gute Laune ein wenig zu kippen. Gleich nach dem Stadteingangsschild Höxter, heißt es, die Weserradstrecke sei gesperrt. Man solle die Umleitung in Richtung Holzminden nehmen. Wir wollen uns Höxter allerdings auch anschauen und fahren in die Innenstadt hinein. Die ganze Stadt eine einzige Riesenbaustelle. Bei der Touristeninformation lassen wir uns einen Stadtplan geben und fragen, welche Sehenswürdigkeiten ohne Baustelle erreichbar seien. Gar keine. Das war die Antwort. Es seinen überall Baustellen. Man bereite sich auf die Landesgartenschau 2023 vor.

Höxter in Vorbereitung auf die Landesgartenschau 2023

Wir verlassen Höxter schnell wieder und folgen den Umleitungshinweisen, die uns in einem riesigen unattraktiven Bogen über Autostraßen wieder zurück an die Weser führen. Schon bald stehen wir vor der Entscheidung, entweder über eine Autobrücke auf die rechte Weserseite zu wechseln und in fünf Kilometern Holzminden zu erreichen oder auf der linken Seite zu bleiben und in neun Kilometern anzukommen. Unsere Karten von bikeline und KOMPASS geben beide die linke Strecke als Hauptstrecke aus. Und mir scheint, dass der Radweg rechts der Weser an einer Bundesstraße entlang läuft. Das wird sich aber später als Irrtum erweisen. Sie ist orange eingefärbt und nicht gelb. Die orangen Strecken sind einfach nur Alternativrouten. Wir bleiben links und folgen einer unglaublich umweghaften Weserschleife, die auch noch im tiefen Schatten eines dunklen Waldes liegt. Meine schon durch Höxter getrübte und durch die Schwimmeinlage immerhin ein wenig wieder angehobene Laune leidet schon wieder. Wo ist die unübertreffliche Hochstimmung der ersten beiden Tage geblieben? Oder handelt es sich hier um die Krise des dritten Tages? Erschwerend kommt hinzu, dass immer noch keine Picknickbank für den Verzehr meines Käsebrötchens auftaucht. Es ist schon 15 Uhr und ich habe seit dem Frühstück nichts gegessen. Da sehe ich eine Bank am Wegesrand, deren schattiger Platz mir jetzt sehr gelegen kommt bei der heißen Lufttemperatur. Schon verzeihe ist uns den langen Umweg und meine Laune hebt sich merklich.

Der Radweg führt über eine Weserbrücke geradewegs ins Zentrum der östlich der Weser gelegenen historischen Stadt Holzminden. Die vielen besonderen Fachwerkhäuser fallen sofort auf. Wie wir später nachlesen, nennen sie sich Ackerbürgerhäuser. Charakteristisch sind für sie die hohe Eingangstür, durch die ein hoch beladener Ackerwagen hindurchfahren kann und die früher als Scheune dienende dritte Etage. Wir steuern sofort die Touristeninformation an, um uns eine Unterkunft empfehlen zu lassen. Sie liegt an dem von Platanen und diversen belebten Straßenrestaurants umsäumten Marktplatz, der als einer der schönsten Marktplätze Norddeutschlands gilt.

Holzminden, einer der schönsten Marktplätze Norddeutschlands

Wieder verfügt das Touristenbüro nicht über die Möglichkeit, freie Zimmer benennen zu können. Man ruft für uns bei der Privatpension Weseraue an und sofort haben wir das Glück, dass ein Zimmer frei ist für uns. Wir begeben uns gleich dorthin und lassen uns von der sehr freundlichen Wirtin das Zimmer zeigen. Wir müssen uns sehr zusammennehmen, unsere Enttäuschung nicht allzu deutlich zu zeigen. Das Zimmer ist kolossal düster, sehr eng und es riecht muffig. Die Vermieterin merkt uns die Enttäuschung sofort an und erklärt, sie könne uns noch ein anderes Zimmer zeigen. Das liegt im ersten Stock und hat zwei Einzelbetten. Aber es ist schön hell, nicht muffig und mit hellen Holzmöbeln eingerichtet. Es handelt sich um ein regelrechtes Ferienappartement mit einer Küchenzeile, die wir jedoch bitte nicht benutzen sollten. Wir sind sehr einverstanden mit dem Zimmer.

Holzminden, Tilly-Haus

Nach einem Erholungsschläfchen brechen wir ohne die Räder zu einer Stadtbesichtigung auf. Die vielen besonderen Gebäude der Stadt faszinieren uns. Wir entdecken im Pflaster der Fußgängerzone eine geschlängelte Linie aus blauen und weißen Steinrechtecken, auf die wir uns keinen Reim machen können. Wir sprechen ein Pärchen an, das auch diese Linie gerade betrachtet. Sie wissen es nicht. Ein Herr schaltet sich ein. Das sei die Riech- und Aromaspur durch die Stadt. Wir hatten schon gelesen, dass Holzminden die Stadt der Düfte und Aromen genannt wird und hatten uns bereits gewundert, dass wir bei den ausgewiesenen Duftstellen niemals etwas gerochen hatten. Der Herr klärt

uns auf, dass es für jeden Geruch eine Riechsäule gebe, in der täglich die Aromastoffe erneuert werden. Er zeigt uns eine solche Säule und wir nehmen ganz intensiven Thymianduft wahr. Auf unserem weiteren Weg begegnen wir noch mehreren solchen Säulen.

Holzminden, die Thymianriechsäule

Erfüllt von den schönen Eindrücken für alle Sinne lassen wir den Tag auf einer Weserterrasse in der Abendsonne bei einem feinen Essen ausklingen. Am Tisch schräg hinter uns sitzen sechs Herren, von denen jedoch ein einziger die ganze Zeit spricht. Mansplainingmäßig klärt er die anderen über alle möglichen Zusammenhänge auf, während diese an seinen Lippen hängen. Als wir später aufbrechen, kann ich mich nicht zurückhalten, mich von den Herren zu verabschieden und dem einen mitzugeben, er solle weiterhin so gut die Gesellschaft unterhalten. Die anderen lachen. Er fragt, was ich denn damit meinte. Ich erkläre, er sei schon ziemlich dominant in der Gruppe. Er schaut bestürzt. Johannes rettet die Situation wie so oft: „Das ist ja nicht das Schlechteste, wenn man dominant ist.“

2 Gedanken zu „Von Bad Karlshafen nach Holzminden (Etappe 3)

  1. Ich verfolge gespannt eure wunderschöne Reise – vor allem da die jetzige Etappe zu den Ursprüngen meiner Eltern in den Solling führte. Die Ortsnamen sind mir alle sehr vertraut!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.