Wir erwachen am 21.06.22 im Hotel Aegidienhof mit Blick auf die Aegidienkirche, in der wir gleich unser Frühstück einnehmen werden. Johannes fragt: „Wo sind wir hier?“ Ich antworte: „In Hannoversch Münden.“ „Und was machen wir hier?“ „Wir befinden uns auf einer Radwanderung, dem Weser-Radweg.“

Der Frühstücksraum ist zuhöchst beeindruckend. Der Kirchencharakter ist weitgehend erhalten: Altarraum, Bilder mit biblischen Motiven, fromme Sprüche auf großen Bannern. Man sitzt auf Kirchenbänken. Der gesamte Innenraum ist in einem warmen Karminrot gestrichen.
Gegen 10:00 Uhr starten wir. Die Strecke entlang der Weser ist viel abwechslungsreicher als die Fuldastrecke von gestern. Weite Landschaftsblicke, Ausblicke auf Ortschaften gegenüber, auch einmal eine Waldstrecke zwischendurch. Sonne pur! Eine ehemalige Benediktinerabtei taucht am Wegesrand auf, das Kloster Bursfelde. Schon von außen ein eindrucksvolles Gemäuer. Bevor man hineintritt, wird man durch eine Engelszeichnung neben dem Eingang aufgefordert, eine Maske anzulegen und bitte zwei Flügelbreiten Zwischenraum zu lassen. Wir legen eine Maske an und treten in einen Vorraum ein, von dem aus sich nach links ein Kirchenraum öffnet und nach rechts ein weiter hoher unbestimmter Raum mit einem runden Wollteppich in der Mitte und mittelalterlichen Malereien an den Wänden. Das ehemalige Kloster nennt sich heute „geistliches Zentrum“. An der Wand in diesem zweiten Raum sitzt ein Mann am Boden. In einer ersten Assoziation halte ich ihn für einen Bettler. Auf den zweiten Blick erkenne ich, dass er in einem Buch liest, das vor ihm am Boden liegt. Der Schneidersitz und das Buch legen eher einen meditativen Hintergrund nahe. Ich schäme mich ein wenig für mein erstes Urteil. Ich selbst würde mich am liebsten im Schneidersitz mitten auf den kreisrunden Wollteppich setzen und den imposanten Raum auf mich wirken lassen. Ich wage es aber nicht, nachdem ich nebenan im Kirchenraum bereits das „Dona nobis pacem“ gesungen habe. Ich möchte nicht allzu exzentrisch in Erscheinung treten.

Gleich neben dem Kloster lädt das Restaurant/Café Klostermühle zu einem Aufenthalt mit Weserblick auf seiner überschirmten Terrasse ein. Mir geht die ganze Zeit seit ich die Engelflügel auf der Zeichnung neben dem Klostereingang gesehen habe das LIed „Er beschirmt dich mit seinen Flügeln“ von Alan Wilson nicht aus dem Kopf. Es hat so eine wundervolle Melodie. Wir haben es vor Kurzem noch im Chor gesungen. Leider erinnere ich mich nicht an den vollständigen Text. Ich hätte es so gerne statt des ewigen Dona nobis in dem Kloster gesungen. Hier auf der Restaurantterrasse finde ich es im Internet. Es hat nur einen sehr kurzen Text (Psalm 91,4), der mehrfach wiederholt wird: „Er beschirmt dich mit seinen Flügeln. Unter seinen Schwingen findest du Zuflucht.“ Ich freue mich darauf, es gleich bei der Weiterfahrt laut zu singen. Bei einem Eis und einem Capucchino auf der Klöstermühlenterrasse beginne ich meine ersten Aufzeichnungen im Reisetagebuch. Ich lese sie beim Schreiben gleich dem Johannes vor, der sich dadurch bruchstückhaft an unsere Erlebnisse wiedererinnert.

Bei der Weiterfahrt sehen wir zum ersten Mal eine der vielen historischen Gierseilfähren, auf die man im Weserbergland immer wieder trifft. Sie bewegen sich alleine durch die Kraft des Wassers über den Fluss. Der Radweg bleibt bis Bad Karlshafen immer nah an der Weser und führt durch Kornfelder, die in der strahlenden Sonne glänzen wie pures Gold.

Beim Hineinfahren in die Stadt kommen wir am Hotel Rose vorbei, wo wir vorsorglich schon gestern über booking.com ein Zimmer reserviert hatten. Wir erkennen sofort, dass wir hier nicht wohnen möchten. Es liegt an der lauten Durchgangsstraße und befindet sich weit weg vom Stadtzentrum. Zum Glück ist es ohne Kosten stornierbar. In Bad Karlshafen angekommen, suchen wir zuerst die Touristeninformation auf, um uns ein schönes zentral gelegenes Zimmer vermitteln zu lassen. Leider verfügt die Infostelle nicht über ein zentrales Datensystem, das zeigen würde, welche Zimmer noch frei sind. Es gibt nur ein Heftchen mit verschiedenen Adressen. Ich wähle eine Privatpension auf der anderen Weserseite aus, eine alte Villa namens „Haus Weserblick“ direkt am Ufer. Ein Telefonat ergibt, dass es dort noch ein Zimmer gibt. Sofort storniere ich das Zimmer im Hotel Rose. Über die nahegelegene Weserbrücke fahren wir in wenigen Minuten ans andere Ufer zum Haus Weserblick und werden von einem jungen Mann empfangen, der wie schon die Dame aus Hann. Münden seltsam unpersönlich auf uns wirkt. Das Zimmer befindet sich zu unserer Enttäuschung nicht in der Villa, sondern in einem Gebäude nebenan. Es ist sehr altmodisch und schlicht eingerichtet, besitzt aber eine kleine Terrasse mit Weserblick.

Nach einem kleinen Erholungsschläfchen setzen wir uns noch einmal auf die Räder. Ich habe vor, einen nicht ganz kurzen Ausflug zur Jugendherberge Helmarshausen zu unternehmen, in der ich vor etwa 30 Jahren zusammen mit meiner Schwester und unseren jeweils drei Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren ein paar Tage verbracht habe. Wir radeln zuerst vorbei am Sole- und Gradierwerk, das ich auch noch von damals in Erinnerung habe, und fahren dann zunächst entlang der Diemel und schließlich ziemlich steil hinauf zur Jugendherberge, die hoch oben auf einem Berg liegt. Das Gebäude sieht noch unverändert aus. Als wir damals hier eintrafen, arbeitete eine Jugendgruppe gerade an einem Zirkusprogramm. Auf dem großen Platz vor der Herberge wurde jongliert, Einrad gefahren, gezaubert und vieles mehr. Unsere Kinder waren fasziniert von diesen spannenden Aktivitäten und ließen sich in der Zeit unseres Aufenthaltes ganz viel beibringen von den Teilnehmern des Zirkus-Workshops wie es damals schon hieß. Diesmal hält sich eine Schulklasse hier auf. Die Jugendlichen sitzen in Grüppchen zusammen und beschäftigen sich größtenteils mit ihren Handys. Wir fragen sie, ob sie auf Klassenfahrt seien. Sie erzählen uns, dass sie eine zehnte Hauptschulklasse seien und sich auf der Abschlussfahrt befänden. Es gefalle ihnen sehr gut hier in der Jugendherberge mit dem „geilen“ Blick ins Tal und den vielen Wäldern ringsherum. Sie würden jeden Tag etwas in den Wäldern unternehmen.

Den Rückweg in die Innenstadt von Bad Karlshafen legen wir in der halben Zeit zurück. Wir lassen uns einfach abwärts rollen bis vor den zauberhaften von makellosen Häuserreihen umgebenen Barockhafen, in dem sich die wolkenlose Abendsonne spiegelt und wo wir das Glück haben, den letzten Tisch in dem sonnenbeschienenen Restaurantgarten des Lokals „Zum Fürstenkrug“ zu ergattern.
