Der Himmel ist bedeckt, aber es regnet nicht. Im Frühstücksraum dürfen wir uns coronabedingt erstmalig nicht selbst bedienen am Buffet. Eine Hotelangestellte begleitet uns und lädt alles auf unseren Teller, was wir ihr zeigen. Ich empfinde diese Form des Bedientwerdens als unangenehm. Ich fühle mich gedrängt, nicht erst lange zu schauen und zu überlegen, was und wieviel ich essen möchte. Auch möchte ich später nicht noch einmal die Bedienung beanspruchen und versuche, auf einen Schlag alles mitzunehmen, was ich essen werde. Es strengt mich an, jetzt nichts vergessen zu dürfen.
Gegen 10:30 Uhr brechen wir zur nächsten Etappe auf. Wir haben in Miltenberg eine Unterkunft gebucht. Bis dorthin sind es etwa 36 km. Wir starten in Richtung Westen in der Hoffnung, schon bald wieder den Main zu erreichen. Statt dessen stoßen wir zuerst auf die Tauber, die hier in Wertheim in den Main mündet. Wir schauen in die Karte und machen uns klar, dass die Altstadt von Wertheim auf einer Art Halbinsel im Dreieck zwischen Main und Tauber liegt. Wir wären besser in Richtung Osten gefahren, um wieder auf den Mainradweg zu stoßen und mit ihm gleich auf die andere Mainseite zu wechseln. So überqueren wir erst einmal die Tauber und gelangen in ein Gewirr von Autostraßen. Wir sehen zwar schon die Spessartbrücke, die uns über den Main und zurück auf die Hauptfahrradroute bringen wird. Nur ist es nicht so leicht, dorthin zu gelangen.
Endlich drüben folgen wir dem in großen Schleifen mäandernden Main über Hasloch, Faulbach, Stadtprozelten, Dorfprozelten. Es ist kalt heute. Wir müssen uns eine Jacke überziehen. Zum Glück regnet es aber entgegen der Vorhersagen immer noch nicht. Gegen halb zwölf erreichen wir Stadtprozelten, wo uns ein schöner Park mit Bänken zum Verweilen einlädt. Ich bin wegen schlechten Schlafens in der Nacht so hundemüde, dass ich auf einer dieser Bänke ein wenig ausruhen und den Naturgeräuschen lauschen will. Wir suchen uns die erste Bank ganz am Rande des Parks aus und lassen unsere Blicke über den Main und die lange Allee aus Laubbäumen schweifen. Kaum sitzen wir dort, sehen wir einen alten Mann mit Stock durch die Alle auf uns zu kommen. Er bittet uns, beiseite zu rücken und ihm Platz zu machen. Die Bank sei für ihn eine wichtige Station zum Kräfteschöpfen. Vor einiger Zeit noch habe er im Krankenhaus gelegen und habe nicht einmal drei Zimmer weiter gehen können.
Johannes fragt ihn, warum er denn im Krankenhaus gelegen habe. Er antwortet: „Sie werden jetzt denken, was für ein Depp ist das denn? Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass meine Frau Ihnen das besser sagen könnte als ich. Wir sind schon 60 Jahre verheiratet. Meine Frau genauso lange wie ich. Sie muss zu jedem meiner Arztbesuche mitgehen. Sie kennt sich einfach viel besser aus mit der Medizin. Das hat sie von Ihrer Mutter.“ Dann beginnt der Herr, ein Gedicht zu rezitieren:
Leben ist mehr als rackern und schuften,
Leben ist mehr als Kohle und Kies,
Leben ist mehr als warten auf morgen
Leben ist jetzt, leben ist dies.
Das sei ein Liedtext, aber er habe noch andere Gedichte. Er zieht ein edel in Leder eingebundenes Heft hervor, das mit dem Titel „Gefühle“ beschriftet ist und schlägt es für uns auf. Wir zeigen uns beeindruckt. Bald steht der Herr wieder auf. Seine Frau warte immer im Auto auf ihn. Sie löse in der Wartezeit Kreuzworträtsel. Laufen wolle er unbedingt alleine. Wir sehen ihn langsam davongehen, gestützt auf seinen Stock, einem einfachen Stock auf dem Wald. Am Ende der Alle sehen wir ein Auto vorfahren, in das er einsteigt.
Ob Menschen dieses fortgeschrittenen Alters grundsätzlich nur noch von sich sprechen und sich nicht für ihren Gesprächspartner interessieren? Bei der alten Dame in Karlstadt war es ja genauso. Ich fühle mich dabei ein wenig missbraucht als Projektionsfläche für die Selbstinszenierung des anderen. Auf der anderen Seite fühle ich mich auch irgendwie beschenkt.
Wir radeln weiter. Der Himmel ist sehr hell jetzt. Eine blasse Sonne schimmert durch eine dünne Wolkenschicht. Heute kommen wir überhaupt nicht durch größere Orte. Gut, dass wir uns in Wertheim mit Proviant versorgt haben. Ein Café zum Einkehren finden wir heute nirgends. Auf der gegenüberliegenden Mainseite schauen wir jetzt immer wieder auf imposante rote Felswände aus Mainheidesand. In Kirschfurt überqueren wir wieder den Main. Von der Brücke aus sehen wir einen Park mit Bänken. Ich bin immer noch so schrecklich müde und träume davon, ein wenig zu schlafen auf einer der Bänke. Leider sind es nicht die bequemen Liegebänke. Wir durchfahren den Park und suchen uns eine Bank ganz am Ende der Anlage aus, um nicht von Spaziergängern gestört zu werden. Ich lege mich der Länge nach auf die Bank und bette meinen Kopf auf Johannes Schoß. Kaum schließe ich die Augen, setzt geradezu eine Völkerwanderung ein. Laute Kinderstimmen, die Unterhaltungen von Opas, Omas, Eltern marschieren an mir vorbei. Ich setze mich wieder auf. Wir verzehren unseren Proviant und radeln weiter. Bis Miltenberg haben wir nur noch 8 km zu fahren.
Kurz bevor wir Miltenberg erreichen, kommen wir durch Bürgstadt, dessen gotisches Kirchenportal der Pfarrkirche St. Margareta eine besondere Sehenswürdigkeit sein soll. Der Ort wirkt auf uns wie ausgestorben. Es gibt kein Altstadtzentrum und das spektakuläre Portal finden wir nicht an der Pfarrkirche. Miltenberg dagegen ist einfach prachtvoll. Leider setzt ein leichter Nieselregen ein. Wir sind froh, dass wir rechtzeitig unser Hotel erreichen, den Wein- und Gasthof Zipf. Das hauseigene Restaurant und seine Speisekarte gefallen uns so gut, dass wir gleich für den Abend dort reservieren. Der Speiseraum im Haupthaus ist schon ganz ausgebucht, aber in der sog. Lounge ist noch ein Tisch für uns frei.
Nach einem erholsamen Mittagsschlaf freuen wir uns auf eine Stadtbesichtigung. Der Marktplatz von Miltenberg soll einer der schönsten Plätze Deutschlands sein. Der Regen ist inzwischen stärker geworden. Wir leihen bei der Hotelrezeption einen riesigen blauen Regenschirm aus und schlendern in Richtung Altstadt. Auf dem großen Platz vor dem neuen Rathaus ist ein Karussell aufgebaut, in dem nur ein einziges Kind im Kreis herum fährt. Der Platz wirkt trostlos mit seinen zugeklappten durchnässten Sonnenschirmen und den sechs dürftigen Fontänen, die den Regentropfen von unten entgegensprudeln. Das wird doch nicht der berühmte Marktplatz sein?
Wir setzen unseren Spaziergang fort und gelangen erst jetzt wirklich in die historische Altstadt. Eine lange Einkaufsstraße voller herrlichster Fachwerkhäuser bringt uns am Ende schließlich zu dem berühmten Platz aus dem 13. Jahrhundert, der damals einen schluchtartigen Entwässerungsgraben zum Main hin besessen hat, das sog. „Schnatterloch“, das zugleich die älteste Stadtgrenze darstellt. Hoch oben über dem Marktplatz thront imposant die Höhenburg Mildenburg mit ihrem 800 Jahre alten Bergfried.