Von Karlstadt bis Lohr (Etappe 4 des Mainradweges)

Bis 5:00 Uhr schlafen wir sehr gut im Schwalbennest auf der anderen Mainseite, auf der sich auch die Ruine Karlsburg befindet. Dann beginnen die ersten LKWs unter unserem Fenster vorbei zu donnern. Es hat geregnet in der Nacht. Wir schließen das Fenster, verstopfen uns die Ohren und schlafen noch einmal für drei Stunden ein. Zum Frühstück erwartet uns eine große freundlich helle Gaststube, in der sich in lockeren Abständen schon eine ganze Reihe von Übernachtungsgästen befinden. Wir werden am Tisch bedient.

Frühstück im Schwalbennest

Um 10:00 Uhr starten wir auf unsere heutige Strecke von etwa 30 km bis Lohr, der sog. Schneewitchenstadt am Main. Unser Fahrradführer von Kompass wirbt für einen Aufenthalt in Lohr mit sehr überzeugenden Fotos und den Worten: „Mach mal Pause! Unsere wunderschöne, fränkische Fachwerkstadt erwartet Sie.“ Wir haben schon gestern Abend über das Internet ein Hotelzimmer in Lohr gebucht, um nicht wieder in eine solch missliche Situation zu geraten wie gestern in Karlstadt. Die Zimmerpreise für die Altstadt lagen allerdings alle weit über 100 Euro pro Nacht, so dass wir uns für ein Hotel in Lohr-Wombach entschieden haben. Mit den E-Bikes sind wir ja schnell wieder in der Innenstadt, so denken wir momentan noch.

Mainradweg zwischen Karlstadt und Gemünden

Es ist schön warm jetzt und sogar teilweise sonnig, obwohl es eben beim Frühstück noch geregnet hatte. Wir überqueren wieder die Mainbrücke, fahren noch einmal durch die Altstadt von Karlstadt und gleiten dann ruhig und ohne Eile parallel zum Mainufer dahin. Der Main ist randvoll. Wir fahren fast auf Wasserspiegelhöhe. Wir fragen uns, ob er nicht auch einmal Hochwasser führt und über die Ufer tritt. Dann wäre der Mainradweg eigentlich auf seiner gesamten Länge nicht befahrbar. Kurz vor Gemünden überqueren wir den Wern, der hier in den Main mündet. Gemünden ist wieder einmal solch eine atemberaubend schöne Fachwerkstadt mit belebtem Marktplatz und einladenden Straßencafés. Wir beschließen, hier einen Kaffee zu trinken. Die Landbäckerei Schaub erscheint uns attraktiv. Wir steigen ab und schieben unsere Räder vorbei an der Ratsschenke in Richtung Bäckerei, die auch eine Reihe von Tischen draußen stehen hat. An einem der Restauranttische sitzen zwei Damen mit einer großen Plastikschüssel voller Tomaten. So eine frische Tomate, womöglich aus eigener Ernte, wäre eine schöne Ergänzung zu meinem Proviantbrötchen. Ich spreche die beiden Damen an und frage sie, ob die Tomaten aus eigener Ernte stammen. Ja, bestätigen sie stolz. Ich frage, ob ich mir eine davon nehmen dürfe. Ja, natürlich. Nehmen Sie auch Ihrem Mann eine mit. Und probieren sie auch diese kleinen Tomaten. Ich wähle eine große und eine kleine Tomate für mich aus. Mein Mann esse keine Tomaten, erkläre ich.

Marktplatz von Gemünden am Main

Johannes hat sich schon an einen der Cafétische gesetzt. Am Nachbartisch randaliert ein junger Mann. Er zeigt einem älteren Herrn, der auch Gast des Cafés ist, den Mittelfinger. Dieser beschimpft den jungen Mann mit übelsten Ausdrücken. Die Wirtin des Cafés droht, sie rufe jetzt die Polizei. Sollen wir uns da wirklich hinsetzen? Johannes meint: Ja. Ich stimme zu, weil ich dringend eine Toilette aufsuchen müsste. Ich gehe in die Bäckerei hinein uns frage nach der Toilette. Die sei zurzeit unbenutzbar, heißt es. Ich solle doch die öffentliche Toilette gleich neben der Touristeninformation aufsuchen. Wieder einmal ein Lokal ohne Toilette, denke ich. Ich gehe hinüber zur Touristeninformation. Auf eine Toilette gibt es keine Hinweise. Es dauert lange, bis ich fündig werde. Als ich schließlich zu Johannes zurückkehre, ist bereits eine Polizeistreife eingetroffen. Der junge Mann lässt sich allerdings nicht beeindrucken von deren Anwesenheit. Wieder legt er sich mit dem älteren Herrn an, der in wüsteste Gegenangriffe übergeht. Ich spreche den Herrn an und meine, er solle sich doch von einem offensichtlich psychisch Gestörten nicht provozieren lassen. „Ach, mit so einem wäre man doch früher ganz anders verfahren.“ „Oh je, sie sind ja wohl auch nicht ganz zurechnungsfähig.“ Schließlich wird der junge Mann abgeführt. Der ältere Herr steigt auf sein Rad und radelt davon. Die Wirtin erklärt uns, dass der Randalierer jetzt schon seit mehreren Wochen in ihr Café komme, die Toiletten verstopfe und Gäste anpöbele.

Gemünden mit der Burgruine Scherenburg

Wir verlassen Gemünden wieder, werfen von der Brücke aus noch einmal einen Blick auf die eindrucksvolle Kulisse der Stadt mit ihrer hoch oben im Berg liegenden Burgruine Scherenburg und radeln auf der linken Mainseite weiter flussabwärts. Bis Lohr sind es jetzt nur noch 14 km. Wir kommen irgendwann an der „Staustufe Steinbach“ vorbei. Beeindruckt von der Dreifachalliteration dieser Bezeichnung sende ich meiner germanistikstudierten Schwester ein Bild. Lohr liegt jetzt nur noch 2 km entfernt. Dort angekommen passieren wir wieder eine Alte Mainbrücke, um die historische Altstadt zu erreichen. Tatsächlich empfängt uns die Schneewitchenstadt mit allerliebsten Fachwerkhäusern. Es ist erst 15:00 Uhr und ich liebäugele damit, auf einer Weinterrasse zur Feier der Ankunft am Etappenziel einmal ein Gläschen Wein zu trinken. Später können wir ja im Hotel ein Mittagsschläfchen machen. Wir schieben unsere Räder durch die Fußgängerzone einmal ganz hinauf bis ans Ende der Altstadt und einmal ganz wieder hinab. Viele Lokale haben Tische an der Straße stehen. Aber es handelt sich um Eisdielen, Cafés, Schnellimbisbuden. Ein einziges richtiges Restaurant gibt es. Das aber ist bis 17:00 Uhr durch eine geschlossene Gesellschaft blockiert, die an zwei langen weiß gedeckten Tischen feiert.

Lohr, Restaurant in der historischen Altstadt

Wir geben den Gedanken an ein Gläschen Wein auf und lassen uns vom Navi zu unserem Hotel leiten. Wir wussten ja, dass es nicht im Zentrum von Lohr liegt. Dass wir aber derartig lange fahren müssen, um dort hin zu gelangen, haben wir nicht erwartet. Die Gegend wird immer einsamer. Wie kann sich so weit draußen überhaupt ein Hotel halten, fragen wir uns. Ob wir zum Essengehen überhaupt noch einmal so weit fahren wollen später, erscheint uns langsam zweifelhaft. Endlich in Wombach angekommen, begrüßt uns das Hotel Spessarttor schon mit einem riesigen Willkommensschild. Nur sehen wir kein Hotel. Weit und breit ist auch niemand zu sehen, den wir fragen könnten. Ich gehe um das Haus herum, vor dem das Plakat aufgestellt ist, und finde einen älteren Herrn bei der Gartenarbeit. Er erklärt mir, dass wir nur noch etwa 700 m der Wombacher Straße weiter folgen müssten. Endlich erreichen wir das Hotel. Unser Zimmer liegt im 3. Stock ganz oben unter dem Dach. Ein großer Raum mit viel Platz, ein Tageslichtbad mit Badewanne. Das Giebelfenster des Schafraums schaut hinaus auf hohe Hügel mit Wald und Wiesen. Das schneeweiß bezogene Bett lädt uns zu einem Mittagsschläfchen ein.

Hotelzimmer im Dachgeschoss des Hotels Spessarttor

Gut erholt erwachen wir nach einer Stunde und beschließen, den Rest des heutigen Tages einmal ganz ruhig zu gestalten. Das Hotel hat ein hauseigenes Restaurant, bei dem wir vorsorglich schon einen Tisch für den Abend reservieren. Das wird sich als eine sehr gute Entscheidung erweisen. Noch ahnen wir nicht, was für eine hervorragende Küche uns erwartet in dem sehr ansprechend eingerichteten Restaurant, das am Abend vollständig ausgebucht sein wird.

Spitzengastronomie in Lohr-Wombach

Ich nutze die entspannte Zeit und setze mich mit dem Reisetagebuch ans offene Fenster. Um 18:00 Uhr läuten plötzlich sehr hektische Kirchenglocken in nächster Nähe. Ich schaue suchend aus dem Fenster und entdecke einen seltsamen quaderförmigen Turm, der smaragdgrün eingerüstet über ein Hausdach hinausragt. Diese Kirche interessiert mich. Ich versuche, Johannes zu überreden, sie mit mir anschauen zu gehen. Er zieht es jedoch vor, mit seinem Roman auf dem gemütlichen Bett sitzen zu bleiben.

Ich breche alleine auf, ohne Maske, ohne Handy. Es dauert nicht lange, bis ich die Kirche erreiche. Der Turm steht isoliert neben einem zylinderförmigen Gebäude mit aufgesetztem Zeltdach in Kegelform. Die Tür ist zu meiner Freude nicht abgeschlossen. Ich trete ein und der hell durchleuchtete riesige kreisrunde Raum überwältigt mich. Ich bin ganz alleine hier. Zuerst schaue ich lange und lasse den Raum auf mich wirken. Dann singe ich das „Dona“, danach „Wäre Gesanges voll“ und noch ein „Halleluja“. Wie schön der Raum klingt. Oder bin ich selbst es, den ich hier zum Klingen bringe? Ich erschrecke. Sollte ich nicht viel lieber einmal nur lauschen, einfach nichts machen, sondern nur sein? Ich bin froh, dass ich mein Handy nicht mitgenommen habe und jetzt keine Fotos machen kann. Ich setze mich in eine der langen Kirchenbänke und bleibe dort lange sitzen.

Genießen im Gasthof Spessarttor

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