12. Juli. Als wir aufwachen, liegen wir schon am Kai von Trondheim. Von Ferne sehe ich die Kathedrale mit ihrem grünen spitzen Kirchturm. Der Himmel ist leicht bewölkt. Wenn wir Glück haben, wird es heute wieder ein schöner Tag. Heute rudere im Fitnessraum im Gleichtakt mit meinem kanadischen Freund, dem älteren Herrn, der jeden Morgen auf einem der beiden Rudergeräte trainiert. Dieses Sportgerät wollte ich einmal getestet haben, bevor wir morgen das Schiff verlassen. Auf einer großen roten Gymnastikmatte macht meine bayrische Mitstreiterin, die ich auch jeden Morgen hier treffe, ihre Rückenübungen. Sie hört dazu schreckliche deutsche Schlager aus einem kleinen Weltempfänger, der später bayrische Nachrichten sendet.
Als wir den Frühstücksraum betreten, sehe ich, dass das Paar mit dem Rollstuhl zum ersten Mal nicht an dem quadratischen Tisch direkt hinter dem Eingang sitzt. Sie haben sich an den weiter rechts stehenden auch für Rollstuhlfahrer reservierten Tisch gesetzt. Unseren jungen Alleinreisenden erblicken wir nicht. Ich versorge mich wie jeden Morgen mit allem, was ich für das Frühstück brauche, auf zwei kleinen Tellern: Zwei Brötchen, Butter, Quark, zwei Sherrytomaten, zwei Streifen Paprika, Kresse, eine Scheibe Räucherlachs, ein Stückchen Makrele, ein hart gekochtes Ei, Ananasstückchen, Orangenschnitze, ein paar Weintrauben vom Käsebuffet, eine Birne. Johannes beschränkt sich auf Lachs und Eier. Am Buffet legt die Kanadierin kurz die Hand auf meine Schulter und wünscht mir einen guten Morgen. Sie klopf auf ihren ansehnlichen Bauch und meint, da müsse eigentlich mal etwas von weg. Ich erwidere, das sei doch unwichtig. Dabei trainiere ich jeden Morgen mit ihrem Mann für eine bessere Figur. Ich komme mir ein wenig verlogen vor.
Am heutigen Tag stehen keinerlei Aktionen an. Wir legen an keinem Ort für längere Zeit an, so dass Landausflüge sich nicht lohnen. Also richten wir uns auf gemütliches Lesen und Schreiben ein. Wir setzen uns an einen Tisch im Innenraum von Deck 7. Draußen ist es bewölkt und windig. Gegen Mittag kommt ein wenig die Sonne heraus und wärmt uns durch die Scheibe mit ihren Strahlen. Bernd kommt zufällig an unserem Platz vorbei und teilt uns mit, dass er jetzt sein bestelltes Lofotenbier von Stefan, einem der Leiter der Lofotenexkursionen, bekomme. Er wird uns ein paar Flaschen davon verkaufen als Mitbringsel für zu Hause.
Am Nachmittag genieße noch einmal den Whirlpool. Ich gleite wieder in die Position des lebenden Durchmessers und lege den Kopf auf der Überlauffläche ab. Das Wasser sprudelt zum Glück nicht und ich schwebe völlig entspannt an der glatten heißen Oberfläche mit zum Himmel gerichteten geschlossenen Augen. Der Helligkeit des Himmels über mir scheint durch meine Augenlieder hindurch. Die dünne hellgraue Wolkendecke leuchtet indirekt von der von oben darauf scheinenden Sonne. Ich fühle mich vollkommen eins mit meinem Sein. Ein zeit- und raumloser Augenblick. Erst als eine laute Durchsage über das Deck ertönt, die den Hafen von Kristiansund ankündigt, den wir bald erreichen werden, komme ich zu mir und steige aus der Herrlichkeit aus. Wir haben zwar nur eine halbe Stunde Aufenthalt aber ich will mit Johannes noch einen letzten Landgang unternehmen., um einmal noch das Dona nobis pacem in einem Kirchenraum erklingen zu lassen. In der Kabine schaue ich noch schnell, wo eine Kirche ist in Kristiansund, dann verlassen wir das Schiff. Wir eilen einen Berg hinauf, finden die Kirche nicht und eilen den Berg wieder hinunter. Johannes will unbedingt 10 Minuten vor dem Ablegen an Bord gehen. Ich lasse ihn voraugehen und wandele noch ein wenig am Hafenbecken entlang. Diese Minuten für mich allein kommen mir wie gestohlene Zeit vor, wie eine Zeit völliger Freiheit. Dieser Hafen, dieser gegenüberliegende Hügel mit seinen eng stehenden bunten Häusern und der massiven Steinkirche gehören nur mir. Als ich schließlich den Rückweg zum Schiff antrete, taucht unser junger Alleinreisender neben mir auf. Er hatte gar nicht erst nach einer Kirche gesucht. Kirchen interessierten ihn nicht. Wir kommen im Gespräch auf die norwegische Sprache zu sprechen und dass viele Begriffe dem Deutschen ähnlich sind. Er äußert dazu, das sei das Nordgermanische. Das habe ja Hitler so gut gefallen. Der habe ja auch dieses scharfe r gesprochen wie auch Göring und Himmler, diese Spinner. Das seien ja alle Spinner gewesen, zuhöchst gefährliche Spinner. Wir verabreden noch einmal, heute Abend ein Glas Wein zusammen zu trinken und trennen uns, um in unsere Kabinen zu gehen. Unser junger Freund hat seine Kabine auch auf Deck 3, eine Innenkabine. Er sei ja kaum mal dort. Er brauche keine Fenster.
Wir packen den roten Rucksack mit unseren Romanen, allen Prospekten, Tagebuch und Laptop und begeben uns in die Lounge, wo wir im bequemen Sessel sitzen und die kleinen Orte, die es jetzt immer häufiger gibt, an uns vorüber ziehen lassen. Allmählich stellt sich bei uns eine leichte Abschiedsstimmung ein. Die Reise war so unglaublich schön in jeder Hinsicht. Wir sind dankbar für alles, was wir erleben durften. Langsam rückt der Reiseabschnitt nach der Schiffsreise in unser Bewusstsein. Den Rückweg von Bergen nach Köln wollen wir über Oslo, Göteborg und Flensburg nehmen. Morgen Abend schon brauchen wir eine neue Unterkunft. Ich recherchiere im Internet nach möglichen Orten für einen Zwischenstopp auf dem Weg von Bergen nach Oslo. Die Ortschaften am Wegesrand sind alle extrem klein und bieten keine Unterkünfte an. Schließlich werde ich doch fündig. Ich buche ein Zimmer mit Seeblick im Voss Vandrarheim Hostel in Vossevangen, etwa eineinhalb Stunden von Bergen entfernt.
Heute Abend steht Schweinshaxe auf der Speisekarte. Von Bernd und Willi erfahren wir, dass sie schon morgens ein alternatives Essen für das Abendmenü bestellt haben. Sie bekommen Fisch. Wir werden hellhörig, denn Schweinshaxe ist auch nicht unsere erste Wahl. Uns allen Vieren stehen fetttriefende Münder über durchwachsenen dicken Fleischbrocken vor Augen, wenn wir an Schweinshaxe denken. Zum Glück können wir auch noch umbestellen. Auf unseren Plätzen werden kleine rote Kärtchen aufgestellt als Zeichen für die Bedienung, dass wir Fisch bekommen. Ein wenig sorgt uns noch die Vorstellung, dass wir vielleicht Stockfisch oder den Klippfisch von heute Mittag bekommen könnten, der unglaublich salzig war. Unsere Sorgen sind unberechtigt. Wir erhalten ein sehr schmackhaftes Stück Seebarsch mit gemischtem Gemüse aus groben Rotkohlstreifen, dicken braunen Bohnen und Fenchel, das noch wunderbar bissfest ist. Wir sind sehr zufrieden und bedauern unsere Nachbarn am Nebentisch, die ihre Schweinshaxe allerdings zu genießen scheinen. Der Abschied von Bernd und Willi macht mich ein bisschen traurig. Bernd tröstet mich. Wir säßen ja morgen beim Mittagstisch noch einmal zusammen. Außerdem wollen wir uns zu Hause auf jeden Fall gegenseitig besuchen.
Am Abend gesellt sich tatsächlich unser junger Freund noch einmal zu uns. Wieder lässt er sich nur einen kleinen Schluck Wein in sein Glas einschenken. Das verletzende Erlebnis von gestern hat er inzwischen „proaktiv“ überwunden. Er hat den Mut gehabt, das Ehepaar direkt anzusprechen und zu erklären, dass er sich einen anderen Tisch hat geben lassen. Er glaube, das sei besser so, hat er zu ihnen gesagt. Wir erfahren im Laufe des Abends sehr viel über ihn, seine Familie, sein Leben. Er spricht im Grunde ununterbrochen. Immer wieder fragt er, ob er auch nicht zu viel spreche. Eigentlich hätten wir ihm sagen sollen, dass er richtig liegt mit seinem Gefühl und dass es eine wichtige Aufgabe für ihn sein könnte, das Zuhören zu lernen. So nah stehen wir ihm aber nicht, so etwas zu sagen. Ich halte ihn auch für schonungsbedürftig. Nach dem Erlebnis gestern und der beruflichen Situation zu Hause ist er nicht belastbar momentan. Sein ältester Bruder, der 7 Jahr älter ist als er, der sei belastbar in jeder Hinsicht. Eine muskulöse Statur verbunden mit verbaler Schlagfertigkeit machten ihn unangreifbar. Er bewundere seinen Bruder. Ihm selbst fehle beides. Er trage deshalb immer Pfefferspray bei sich. Er sei schon häufig bedroht worden. In der Firma, für die er seit seiner Rückkehr nach Frankfurt arbeitet, wird er massiv gemobbt von zwei Italienerinnen, die ihm sogar das Lachen verbieten wollen. Er redet und redet. Nach und nach stellt sich das Drama seiner Familie heraus. „Unter jedem Dach ein Ach.“ Seine Schwester ist autistisch. Sie ist schon früh in einer Einrichtung untergebracht worden. Sein so bewunderter ältester Bruder hat schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich. Aus der ersten Ehe stammt ein Sohn. Dieser hat wiederum selbst schon eine gescheiterte Beziehung mit Kind hinter sich. Der andere Bruder hat sich selbst völlig ruiniert durch trinken und rauchen. Bis fast Mitternacht sitzen wir zusammen. Johannes drängt schließlich auf den Aufbruch. Er kann nicht mehr länger zuhören.