11. Juli. Beim Frühstück sitzen wir an dem runden Tisch von unserem ersten Abend. Wir setzen uns zu einem jungen norwegischen Paar dazu. Es ist schön sonnig hier und Johannes, der trotz seiner dicken dunkelbraunen Strickjacke friert, kann sich aufwärmen. Das junge Paar ist sehr auf sich selbst bezogen. Sie suchen nicht das Gespräch. Am Buffet treffe ich auf Christiane. Im Gegensatz zu uns ist sie letzte Nacht mit Winfried bis 1 Uhr aufgeblieben, um echte Mitternachtssonne zu erleben. Sie sind nämlich der Ansicht, dass aufgrund der Zeitverschiebung im Sommer, die eigentliche Mitternacht erst um 1:00 Uhr eintritt. Leider sei die Sonne irgendwann in der Dunstschicht versunken. Das tröstet mich natürlich.
Inzwischen haben wir uns an Deck gesetzt, schön windgeschützt auf Deck 7 liegt Johannes warm verpackt mit seiner dicken Strickjacke, einem Schal um den Hals, dem Anorak auf den Beinen, meiner Steppweste im Rücken und seinem blauen Käppi auf dem Kopf in der Sonne. Ich habe mich mit dem Laptop und meinen gesamten Unterlagen an einen der Holztische vor der durchsichtigen Windschutzwand an Deck gesetzt und nehme mir vor, heute endlich meine handgeschriebenen Tagebucheintragungen zu vervollständigen. Zuerst bringe ich den Text im PC auf den aktuellen Stand, dann widme ich mich meinem Tagebuch.
Erst gegen Mittag begeben wir uns wieder hinein. Als wir gerade in der Kabine ankommen, hören wir eine Durchsage, die auf das großartige Naturphänom der sieben Schwestern hinweist, die gleich auf der Backbordseite zu sehen sein werden. Es handelt sich dabei um eine Bergformation nördlich von Sandnessjøen, die aus sieben Bergen besteht. Es gibt eine Sage über die sieben Schwestern, die im Zusammenhang mit dem Torgatten steht, dem Berg mit dem rechteckigen Loch. Den hatten wir auf der nordgehenden Reise in der tiefen Nacht gesehen. Jetzt bei der Rückreise wird das Postschiff am späten Nachmittag noch einmal einen Umweg fahren, um auch den neuen Fahrgästen einen Blick auf Torgatten zu verschaffen.
Die Sage über Torghatten und die sieben Schwestern
Der ungehorsame Sohn des Königs Vågekallen, Hestmannen, lebte in Svolvaer. Auf der anderen Seite des Vestfjordes lebte der mächtige König Sulitjelmakongen, der sieben Töchter hatte, von denen eine wilder als die andere war. Um sie zu mäßigen schickte Sulitjelmakongen seine Töchter zur ehrbaren Jungfrau Lekamøya. Eines schönen Abends sah Hestmannen, der über den Vestfjord blickte, Lekamøya beim Baden im Fjord von Landego. Sofort verfiel Hestmannen in eine große Leidenschaft für sie. In voller Rüstung preschte er mit seinem Pferd über den Vestfjord. Lekamøya, die dies bemerkte, begab sich mitsamt der sieben Schwestern auf eine wilde Flucht. Die sieben Schwestern allerdings hatten Gefallen gefunden an Hestmannen und flüchteten nicht weiter vor ihm. Sie hockten sich bei Alstahaug erwartungsvoll nebeneinander hin und hofften darauf, dass er eine von ihnen zur Frau nehmen würde. Doch Hestmannen würdigte sie keines Blickes, da er nur Augen für Lekamøya hatte. Als diese jedoch immer mehr Vorsprung gewann, nahm er seinen Bogen und schoss einen Pfeil auf sie ab. Dies beobachtete der König der Sømnaberge und warf seinen Hut in die Bahn des Pfeils. Der Hut blieb auf der Insel Torgar durchschossen liegen. Über die wilde Jagd hatten sie alle vergessen, wie kurz die Sommernächte im Norden sind. Schon ging die Sonne wieder auf und alle Beteiligten versteinerten wo sie gerade saßen oder standen: Der Hut als Torghatten, die sieben Schwestern nebeneinander bei Sandnessjøen und Lekamøya auf der Insel Leka, wo sie Schutz gesucht hatte.
Am Nachmittag legen wir für eine gute Stunde in Brønnøysund an. Die Sonne lockt mich an Deck. Einer der beiden Whirlpools liegt momentan vollständig im Sonnenschein. Ein Bad ist jetzt genau das richtige. Ich kleide mich schnell um und trete an Deck. Ein Herr entsteigt gerade dem Wasser und verabschiedet sich von einer Dame, die noch im sprudelnden Pool sitzen bleibt. Ich gehe zu ihr und frage sie, ob ich mich dazu setzen darf. Sie lädt mich freundlich ein, hineinzusteigen und bittet mich noch, mit dem Handy aus ihrer Außentasche am Rucksack ein Bild von ihr im Pool zu machen. „It’s for my friends at home.“ Sie ist Norwegerin aus Oslo, eine sehr sympathische Dame mit blonden Locken und sehr viel Schmuck um Hals und Handgelenke. Sie berichtet, dass in Oslo schon den ganzen Mai und den ganzen Juni so wunderbar die Sonne geschienen habe. Das sei ein totaler Ausnahmesommer. Schon bald verabschiedet sich die Dame. Es sei ihr inzwischen zu heiß. So ganz alleine in dem kreisrunden Becken, breite ich mich so weit und breit wie möglich aus. Ich strecke die Beine aus und lege sie auf der erhöhten Einstiegsstufe gegenüber ab, so dass ich einen Durchmesser des Kreises bilde. Meine Arme breite ich rechts und links auf den Beckenrand. Von oben scheint heiß die Sonne. Nach einer Weile wird es mir so warm, dass ich mich auf den Beckenrand setzen muss, in die etwas kühlere Luft draußen. Ein Herr in Badehose tritt auf. Er zögert, ins Becken einzusteigen. Ich fordere ihn auf: “Come in.“ Er gibt zu verstehen, er komme später hinein. Dann setzt er sich in einen Liegestuhl und sonnt sich. Ich genieße meinen Luxusaufenthalt nicht mehr uneingeschränkt. Immer wieder schaue ich zu dem Herrn und stelle mir vor, dass er vielleicht darauf wartet, dass ich das Becken verlasse. Oder will er erst einmal ein wenig bräunen? Vielleicht wartet er auch auf seine Frau. Ich schelte mich dieser Überlegungen. Ich sollte das Bad einfach genießen. Es geht mir ähnlich wie Sartre in der Parkanlage. Das Auftreten des Anderen in meinem Mikrokosmos lässt diesen auslaufen, ablaufen. Wie eine Badewanne, deren Wasser im Abfluss entströmt. Schließlich erscheint eine Dame im roten Badeanzug. Der Herr sieht sie kommen und erhebt sich. Die beiden steigen zu mir in meine Wanne ein. Ein paar Worte wechsele ich noch mit ihnen. Sie kommen aus Schweden. Ich verabschiede mich und kehre zu Johannes in die Kabine zurück.
Wir greifen unseren Roman und machen uns auf den Weg zu Deck 7, wo wir uns zum Lesen in die Sonne setzen wollen. Als wir am Landausgang auf Deck 3 vorbeikommen, sieht Johannes, dass noch eine halbe Stunde Zeit ist für einen Landgang in Brønøysund. Auf der Ankündigungstafel neben dem Ausgang, die bei jedem Anlegen die Abfahrzeit bekannt gibt, lesen wir: Abfahrt 17:00 Uhr. Spontan gehen wir hinaus. Wie immer halten wir unsere Bordkarte zum Skannen hoch. Es erschallt das sonore „good by“ aus dem Computer. Wir schlendern hinaus mit unserem Roman unter dem Arm. Nach wenigen Schritten schon treffen wir auf die Hauptstraße und wenden uns nach rechts. Es ist nichts Interessantes zu sehen, das anzuschauen sich lohnen würde. Eine Kirche wäre zum Beispiel interessant. Wir gehen ein Stück die Straße hinauf, biegen dann einmal nach links in eine Seitenstraße ab und stoßen nach kurzer Zeit auf einen kanalartigen Wasserarm. Wir kehren um und gehen die Hauptstraße noch einmal in die Gegenrichtung entlang bis wir die Touristeninformation entdecken. Wir gehen hinein und fragen nach einer Kirche. Die Dame an der Rezeption zeigt sie uns auf dem Stadtplan. Wir hätten einfach am Anfang noch einmal doppelt so weit gehen müssen. Dann hätten wir sie gesehen. Jetzt ist es zu spät. Wir kehren zum Schiff zurück.
Der Himmel ist inzwischen völlig wolkenlos und die Sonne steht noch sehr hoch. Wir setzen uns an die Holzumrandung des leeren defekten Pools in die wärmenden Strahlen und lesen in unseren Romanen. In beiden Whirlpools planschen Eltern mit ihren Kindern. Fast zwei Stunden sitzen wir dort. Mein Roman spielt zufällig gerade in Brønøysund. Ich kann mir die Landschaft zu dem Romangeschehen lebhaft vorstellen und umgekehrt füllt sich die draußen vorüberziehende Landschaft durch den Roman mit Gestalten und Geschichten.
Das Abendessen wird heute zur Feier des 125-jährigen Jubiläums von Hurtigruten besonders gestaltet. Schon beim Eintreten erhalten wir jeder ein Glas Champagner. Statt der üblichen drei Gänge wird heute ein Fünfgängemenü serviert. Die einzelnen Gänge sind dafür unglaublich übersichtlich. Jeder Bissen kommt uns extrem kostbar vor und wir essen ganz langsam. Heute erzählen unsere Tischnachbarn Bernd und Willi die dramatische Geschichte ihrer Vietmanreise. Willi hatte nach einem anstrengenden Tag mit Quadtour durch unwegsames Gelände plötzlich eine Bewusstseinsstörung. Er konnte nur noch lallen und war nicht wirklich bei sich. Später stellte sich der Vorfall als epileptischer Anfall heraus. Der ADAC hat ihn schließlich nach Deutschland zurückgeholt. Vorher hatten die beiden eine riesige Odyssee von Klinik zu Klinik durchgemacht. Nie wieder in so ein unterentwickeltes Land, schwören sie sich.
Den Abend verbringen wir am Panoramafenster. Kaum habe ich mich da mit dem Laptop eingerichtet, um den Bericht vom heutigen Tag aufzuschreiben, spricht mich von hinten der junge Alleinreisende vom ersten Tag an. Wir haben ihn seitdem jeden Tag getroffen und uns mit ihm ausgetauscht. Ich hatte ihm auch anvertraut, dass die Dame an seinem Frühstückstisch, dem besagten Tisch, der für Rollstuhlfahrer reserviert ist, so abweisend sei. Obwohl wir uns am Tag der Abfahrt sehr lange mit ihr und ihren Mann, der im Rollstuhl sitzt, unterhalten hätten, vermeide sie seitdem den Blickkontakt mit mir. Über diese Dame meint der junge Mann nun zu mir, ich solle mir keine Gedanken machen, dass es an mir liege, wenn sie so abweisend zu mir sei. Er selbst habe heute dasselbe erlebt. Ich stehe gleich auf und lade ihn ein, sich zu uns zu setzen und ein Glas Wein mit uns zu trinken. Er lehnt vehement ab. Er wolle nicht stören. Ich weise auf zwei Plätze auf der Bank in der Reihe hinter uns und wir setzen uns dort hin. Er ist sehr aufgewühlt. Die Dame habe ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihr nicht sympathisch sei. Sie habe geäußert, das es ok für sie sei, dass er mit ihnen am Tisch sitze, aber einen weitergehenden Kontakt mit ihm wünsche sie nicht. Immer wieder betont er, das sei ja das Recht jedes Menschen, jemanden nicht zu mögen. Aber hätte sie nicht einen eleganteren Weg finden können, den Kontakt zu ihm zu meiden? Gerade von jemandem mit ihrer Bildung könne man doch erwarten, eine solche Situation zu meistern ohne den anderen zu verletzen. Immer wieder bittet er mich inständig, die Dame nicht darauf anzusprechen. Überhaupt solle ich mit niemandem darüber reden. Er wolle auch kein Mitleid. Ihm gehe es zurzeit ohnehin nicht gut. Er befinde sich in einer Pechsträhne. Die berufliche Rückkehr nach Karlsruhe sei nämlich vollständig fehlgeschlagen. Wenn es ganz schlecht laufe, stehe ihm noch ein Prozess bevor. Es könne sein, dass man ihn in Regress nehme. Damit hinge es zusammen, dass er momentan sehr empfindlich sei und ihm diese Zurückweisung so zu schaffen mache. Er betont noch einmal, dass er mir das alles nur deshalb erzähle, weil ich doch auch den Eindruck gehabt hätte, dass diese Dame mich zurückweise. Ich erzähle ihm kurz die Geschichte unserer anfänglichen Begegnung am ersten Tag an Bord und dass ich die Dame interessant gefunden hätte. Ich glaubte, wir könnten uns gut verstehen. Darauf sagt er einen Satz, an den ich seitdem immer wieder denken muss: „Es gibt Menschen, die sind eine Falle.“ Dann ist es ihm plötzlich wieder peinlich, dass er mich so lange von Johannes fernhält. Ich beruhige ihn. Johannes sei in der Hinsicht sehr großzügig. Ich lade ihn nochmals ein, sich zu uns zu setzen und ein Glas Wein mit uns zu trinken. Er stimmt diesmal zu. Ich versuche, einen Sessel für ihn zu organisieren. Der erste Versuch ist leider erfolglos. Schon heißt es: „Ich kann auch stehen.“ Das lasse ich nicht gelten. Ich gehe ein Stück weiter und finde dort einen freien Sessel. Als ich ihn herbeihole, eilt mir der junge Mann entgegen und zieht mit mir zusammen den Sessel zwischen Johannes und meinen Platz. Wir schenken ihm von unserem Wein ein und stoßen alle miteinander an. Ich frage nach der Anzahl der Anstöße. Er denkt nach, sagt zuerst sechs, korrigiert sich dann aber schnell und sagt, dass man noch durch 2 teilen müsse. Ich bin beeindruckt. Er berichtet, er habe in der Schule den Mathe-LK belegt. Wir verbringen den ganzen Abend mit ihm und verabreden uns auch für den morgigen Abend. Er bedankt sich für das Gespräch mit uns. Es gehe ihm schon wieder viel besser.