Tag 8, Hammerfest und Mitternachtskonzert in Tromsø

9. Juli. Fitnesstraining, Frühstück, Vorbereitung zum Landgang. Wir legen um 11:00 Uhr etwas verspätet in Hammerfest an und haben dort einen Aufenthalt von zweieinhalb Stunden. Spontan beschließen wir, noch die Seeadlersafari für morgen zu buchen. Von Teilnehmern der entsprechenden Expedition auf der Hinfahrt hatten wir begeistert erzählen gehört. Ich habe das Geld jetzt lockerer sitzen, da ich sehe, welche unglaublichen Erlebnisse meine Nichte Mariele sich verschafft mit dem Geld, das sie zum 18. Geburtstag bekommen hat. Es geht vor allem darum, sich Erlebnisse zu verschaffen und nicht darum, sein Geld zu horten. Mariele wird in zwei Wochen ganz alleine nach Oslo fliegen und von dort aus eine Norwegenreise von Campingplatz zu Campingplatz machen. Sie hat unsere volle Bewunderung. Sie ist sehr mutig.

In Hammerfest haben wir ein „Hammerwetter“. Der Himmel ist fast wolkenlos und es ist richtig warm. Die Jacke, die wir vorsichthalber mitgenommen haben, legen wir schon am Kai wieder ab. In der Touristeninformation erhalten wir einen Stadtplan. Es gibt zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische sowie einen Friedhof mit einer Kapelle aus dem Jahr 1937, die als einzige im zweiten Weltkrieg nicht zerstört worden ist. Die Deutschen haben 1944 bei ihrem Rückzug aus Hammerfest, dessen Hafen die deutsche Kriegsmarine im zweiten Weltkrieg genutzt hatte, die Stadt fast vollständig niedergebrannt. Außer den Sehenswürdigkeiten lockt uns wieder ein Aufstieg auf den Berg hinter Hammerfest. Von dort oben wird man einen grandiosen Blick auf die Stadt und den Fjord haben. Die Stadt ist nicht sehr groß. Wir wenden uns zuerst nach rechts und erreichen in wenigen Minuten die evangelische Kirche. Sie hat ähnlich wie die Kirche in Vardø ein hohes schlankes Dreiecksprisma als Turm. Nicht nur der Turm, sondern die gesamte Außenansicht der Kirche ist von Dreiecken als Stilelement beherrscht. Das großflächige mit roten Schindeln gedeckte Dach des Haupthauses ist von dreiecksförmigen Dachgauben durchbrochen. Auch die dreieckige Frontseite des Turmes hat vielerlei Durchbrechungen. So gibt es mehrere Fensterreihen, die in kleine Dreiecke unterteilt sind, und unterhalb der Spitze ist der Turm ganz offen. Er besteht nur noch aus einzelnen Balken und gibt einen Durchblick auf die Glocken frei.

Dreiecksbetonte Lutherische Kirche von Hammerfest

Innen beeindrucken die vielen hell leuchtenden farbenfrohen Glasmosaike. Über dem Altar befindet sich ein großes dreieckiges und an den Wänden quadratische Glasmosaike mit christlichen Motiven. Sehr viele Fahrgäste unseres Schiffes befinden sich in der Kirche und fotografieren kreuz und quer. Wir besuchen auch den Friedhof, der gleich auf der anderen Straßenseite gegenüber der Kirche liegt. Die Friedhöfe sehen hier in Norwegen ganz anders aus als bei uns in Deutschland. Für die Toten sind nicht wie bei uns rechteckige Parzellen abgeteilt. Die Grabsteine teilen sich eine große gemeinsame Grünfläche. Grundbesitz im Tode ist unnötig.

Friedhof von Hammerfest

Wir wollen auch die katholische Kirche von Hammerfest besuchen. Sie liegt auf der linken Seite der Stadt vom Hafen aus gesehen. Auf dem Weg dorthin kommen wir auch an einer Methodistenkirche vorbei, die leider geschlossen ist. Die katholische Kirche liegt ein wenig versteckt in einem Straßenwinkel. Sie ist auch nicht weithin sichtbar wie man es von Kirchen gewohnt ist. Wir sprechen einen Einheimischen an, um zu erfahren, wo die Kirche zu finden ist. Es ist ein alter Mann, der am Rollator geht. Wir fragen ihn, ob er Englisch verstehe. Er versteht diese Sprache offensichtlich nicht. Ich versuche es mit Norwegisch und sage „kirke“. Er versteht mich leider überhaupt nicht. Wir bedanken uns und gehen weiter die Straße entlang. Kurz danach erreichen wir die Kirche St. Mikael, die sich selbst als die nördlichste katholische Kirche der Welt bezeichnet. Sie wurde beim Wiederaufbau der Stadt 1961 von zahlreichen Freiwilligen erbaut. Man erblickt zuerst die weiß getünchte Außenwand mit einer riesigen Darstellung des heiligen Michael. Der Herr mit dem Rollator holt uns ein. Ich zeige ihm die Kirche und erkläre ihm, dass ich das mit „kirke“ meinte. Er sagt etwas, das sich wie „Schirche“ anhört. Ich frage nochmal nach, wie man in  Norwegen „Kirche“ sagt. Er versteht nicht, was ich meine und legt seine Hände zusammen wie zu einem Gebet und sagt: „Halleluja, halleluja“. Wir lachen, bedanken uns herzlich und bewegen uns zur Eingangstür. Wir freuen uns, die Kirche offen vorzufinden. Doch innen gibt es noch eine zweite Tür, die leider verschlossen ist. Wir ahnen noch nicht, dass sich der eigentliche Kirchenraum in der ersten Etage befindet. Eine gewundene Treppe, gesäumt von Glasbildern in den Treppenhausfenstern, führt in die erste Etage. Die Kirche ist geöffnet. Auch hier befinden sich wieder viele Touristen, die herumlaufen und fotografieren. Es ist gerade 12:00 Uhr Mittag und ein Glockenspiel ertönt von oben aus dem Glockenturm. Dazu hört man einen Kirchenchorgesang vom Band mit einem volkstümlich anmutenden Halleluja. Der schlichte Innenraum der Kirche gefällt mir sehr gut. An den weißen Wänden hängen die Kreuzwegstationen in Form von Holzreliefs. Ich fotografiere eine Marienikone, die auf goldenem Hintergrund eine Mutter Gottes mit Jesuskind darstellt. Die Schwiegertochter meiner Schwester hat heute Nacht ihren Max Jan zur Welt gebracht. Ich will ihr dieses Bild als Segensbild zukommen lassen.

Marienikone aus St. Mikael in Hammerfest

Wir verlassen die Kirche wieder und gehen die bergauf führende Straße immer weiter nach oben. Auf unserem Stadtplan sehen wir, dass wir auf diesem Wege ebenso auf den Berg hinauf gelangen können wie auf dem Pfad, den die Leiterin der Gruppenreise vorgeschlagen hatte. Wir steigen immer weiter hinauf. Links und rechts stehen Holzhäuser in allen Farben. Immer wieder staunen wir darüber, dass auch hier wie bei uns zu Hause seit einigen Jahren in vielen Gärten Trampoline stehen. Mein Bruder würde vermutlich von einem „Mem“ sprechen, einem Begriff, den Richard Dawkins in Analogie zu dem Begriff „Gen“ geprägt hat. Es handelt sich dabei um eine Einheit der kulturellen Vererbung, eine Idee, die sich fortpflanzt über die ganze zivilisierte Welt. Von einer der ziemlich weit oben verlaufenden Straßen geht eine Holztreppe noch weiter hinauf. Weiter oben stehen auch noch Häuser und wir glauben, dass die Treppe vielleicht eine private Treppe ist. Ein Blick in die Karte überzeugt uns aber davon, dass wir hier hinauf steigen müssen. Mitten auf der Treppe kommt uns eine Norwegerin entgegen, die uns sehr freundlich anschaut. Ich spreche sie an und frage, ob sie Englisch spreche. Sie bejaht. Ich frage sie, wie man in Norwegen das Wort Kirche ausspricht. Sie sagt: „Chirka“.

Begegnung in den Hügeln von Hammerfest

Oben angekommen, befinden wir uns auf einem weiten Hochplateau mit einem See in der Mitte. Man schaut weit über den Fjord, die umstrittene Erdgasverflüssigungsanlage und auf die schneebetupften Berge ringsum.

Melkøya und das LNG-Gasterminal

Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, um zum Schiff zurückzukehren. Aber fünf Minuten setzen wir uns noch auf die einladende Bank hier oben. Wir stellen uns vor, noch einmal diese Erfahrung der absoluten Stille erleben zu können wie in Honningsvåg. Leider hören wir aber die ganze Zeit das Geräusch eines startenden Flugzeugs. Wir brechen auf und schreiten jetzt mit gesteigertem Tempo auf den serpentinenartigen Wanderweg zu, der uns wieder hinab bringen wird. Ständig bleiben wir stehen und fangen noch ein paar Eindrücke mit der Kamera ein.

Blick von oben auf Hammerfest

Wir treffen rechtzeitig am Schiff ein. Inzwischen ist es schon Zeit, zum Mittagstisch zu gehen. Der Speisesaal ist so voll, dass wir in einer Warteschlange darauf warten müssen, an einen Tisch platziert zu werden. Wir werden an einen Fenstertisch geführt, von dem sich gerade ein Paar erhebt. Die Schlange am Buffet hat wieder einmal weder Anfang noch Ende. Damit können wir inzwischen umgehen. Man schlüpft einfach an irgendeiner interessanten Stelle dazwischen. Heute gibt es schon zum wiederholten Male kein Eis als Dessert. Dafür gibt es aber einen herrlichen Schokoladenkuchen, der so schmeckt wie kalter Hund ohne Kekse. Dazu Sahne. Die Sahne animiert uns, auch noch einen Kaffee zu trinken. Danach legen wir uns für eine Stunde ins Bett und schlafen.

Als wir wieder aufstehen, ist das Wetter nicht mehr so sonnig. Wir setzen uns gleich in die Panoramalounge. Ich schreibe und schreibe nur noch. In meinem Roman lese ich schon seit drei Tagen nicht mehr. Ich merke aber, dass ich so ausführlich nicht weiter aufzeichnen sollte, was wir erleben. Es treten Ermüdungserscheinungen ein. Ich habe das dringende Bedürfnis, jetzt einmal etwas anderes zu tun. Obwohl wir in einer knappen Stunde schon zum Abendessen aufbrechen müssen (seit heute ist unsere Tischzeit auf 19:00 Uhr abgeändert worden), beschließe ich, mich noch in den Whirlpool zu legen. Ich schaue zuerst auf dem Deck 7, ob schon Personen darin baden. In dem Pool auf der Backbordseite liegt das Raucherehepaar, das man immer nur an Deck antrifft. Ich gehe meinen Badeanzug und das Badehandtuch aus der Kabine holen und lege mich in den Pool auf der Steuerbordseite. Es ist unbeschreiblich herrlich, hier im heißen Wasser zu liegen und in die kühle Landschaft hinaus zu schauen mit ihren beschneiten Bergen.

Beim Abendessen treffen wir wieder auf Bernd und Willi. Sie schwärmen von ihrem erneuten Ausflug zum Nordkap heute in aller Frühe. Obwohl es mit dem Bus eine Reifenpanne gab, die sie ziemlich viel Zeit gekostet hat, haben sie jeden Moment genossen. Beide sind Künstler des Konstruktivismus. Am Nordkap haben sie überprüft, ob ihr Liebesschloss noch dort hing. Die beiden Schlüssel hatten sie in die Klippen geworfen. Ich erfinde eine Geschichte, bei der ein Fisch einen der beiden Schüssel schluckt. Ein Fischer fängt den Fisch und findet den Schlüssel. Er probiert ihn aus an den 5 Liebesschlössern, die am Nordkap hängen. Und kaum öffnet sich das richtige Schloss, zerbricht in Deutschland die Verbindung von Bernd und Willi. Bernd protestiert lautstark gegen diese Geschichte. Ich dichte um: Der Fischer sieht das wunderschöne Schloss mit den zwei roten Herzen und versucht es aufzuschließen. Kaum aber berührt er es, trifft ihn ein heftiger Stromschlag. Voller Entsetzen schleudert er den Schlüssel ins Meer zurück. Mit dieser Version ist Bernd einverstanden. Willi hatte sich durch meine erste Version nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er sagt, er sei der ruhende Pol von beiden.

10345968 sei die kleinstmögliche 8-stellige Zahl, die durch 36 teilbar ist. Mit so etwas beschäftigt sich Johannes. Leider ergibt die Überprüfung, dass es nicht stimmt. Aber die zweite Lösung, die er später in der Eismeerkirche vorlegt, ist richtig.

Nach dem Abendmenü sitzen wir wieder am Panoramafenster und gleiten vorbei an schroffen Felsenbergen fast ohne Grün. Manche sind weiter oben mit einer riesigen Schneefläche geziert. Von Zeit zu Zeit taucht ein ganz kleines begrüntes Tal am Rand des Wassers auf, auf dem ein paar wenige Häuser ohne Auto stehen. Straßen führen dort nicht hin. Der Himmel ist locker bewölkt. Einzelne Wolkenfetzen schweben vor den Felswänden, manche Bergspitzen sind von Wolken eingehüllt. Das Wasser ist heute nicht ganz glatt wie in den letzten Tagen. Es ist leicht wellig und kräuselig und schimmert in dem düsterblassen Blau wie der abendliche Polarhimmel. Eine Atmosphäre des Unwirklichen.

Mit den Hurtigruten südwärts zwischen Øksfjord und Skjervøy

In diese Stimmung genau fügt sich das Mitternachtskonzert in der Eismeerkirche von Tromsø. Mit fünf Bussen, die wir zuerst nicht finden am Kai von Tromsø, werden wir vom Schiff abgeholt. Das mitternächtliche Licht lässt die Stadt wie tot erscheinen. In einer Bar sitzen noch Paare mit einem Cocktail im Fenster. Sie werden dort sogar noch sitzen, wenn wir später nach eins hier wieder vorbeifahren. Auf der anderen Fjordseite sehen wir von Ferne die blass weiß leuchtende Zeltkirche in ihrer markanten Dreiecksform. Wir fahren über die Tromsø-Brücke, die einen hohen spitzen Bogen über das Wasser schlägt. Die Fahrt bergab ist beängstigend steil. Wir betreten die imposante Kirche mit ihrem riesigen dreiecksförmigen Glasmosaik über dem Altar.

Innenraum der Eismeerkathedrale von Tromsø

Noch ist es erlaubt, zu fotografieren. Später heißt es, dass „leider“ aus urheberrechtlichen Gründen das Fotografieren und Mitschneiden des Konzertes nicht erlaubt ist. Ich stoße mich an dem „leider“. Ist es denn nicht gut, dass Urheberrechte geschützt werden? Ein großer Flügel steht mit schon offenem Deckel auf der Konzertbühne, die von drei großen weißen Stellwänden vom Altarraum abgeschirmt wird. Die Kirche ist gut gefüllt, als wir begrüßt werden zu dem Konzert. Eine Dame in leuchtend rotem Kleid heißt uns in drei Sprachen willkommen und wünscht uns viel Freude an der Musik. Sie zieht sich hinter eine der Sichtwände zurück. Und plötzlich hört man eine überirdisch rein und klar klingende raumfüllende Sopranstimme eine Volksweise singen. Dann tritt die Sopranistin hervor, Anne-Berit Buvik. Es ist dieselbe Dame, die uns zuvor begrüßt hat. Sie schreitet durch den Mittelgang langsam nach hinten in die Kirche, während sie immer weiter singt. Kaum endet das Lied, setzen von der Empore über dem Eingang Orgelklänge ein und wieder erhebt sich die hohe klare Stimme zu einem bezaubernden Gesang. Übergangslos setzt sich der Zauber fort mit einem Stück für Orgel und Saxophon, das ebenfalls von hinten erklingt. Die weiteren Darbietungen des Abends erfolgen von vorne. Jetzt können wir den agierenden Künsterlerinnen zuschauen, der Organistin Linde Mothes, der Saxophonistin Ingvild Staff und der Sängerin, die wir schon kennen. Es wechseln sich volkstümliche Weisen mit Werken der klassischen Literatur ab. Etwa eine Stunde dauert das mitternächtliche Konzert, das uns auf himmlische Weise einstimmt in die Nacht. Als der Applaus zum Abschluss des Konzertes nicht enden will, überraschen uns die drei Musikerinnen noch mit einem höchst musikalisch dargebotenen Schlaflied, dem „Wiegenlied“ von Johannes Brahms „Guten Abend, gute Nacht“.

Zurück auf dem Schiff nach dem Mitternachtskonzert von Tromsø

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