8. Juli. Wir stehen heute schon früh auf, weil wir um 9:00 Uhr bereits in Kirkenes anlegen, dem Wendepunkt unserer Reise. Kirkenes wird „Tor nach Osten“ genannt und ist die letzte norwegische Stadt vor der russischen Grenze. Wir haben dort einen dreieinhalbstündigen Aufenthalt. Der Schiffsanleger befindet sich weit außerhalb des Stadtzentrums. Wenn wir also Zeit zur Besichtigung der Stadt haben wollen, müssen wir zeitig aufbrechen. Der Himmel ist heute wolkenlos und es ist überhaupt nicht kalt. Gegen 8:45 Uhr betreten wir den Frühstücksraum. Gleich links am Fenster sehen wir meine norwegische Freundin mit ihrer Begleiterin sitzen, die ihre Mutter ist, wie wir jetzt erfahren. Wir setzen uns dazu. Die beiden haben aber nur noch 10 Minuten Zeit bevor sie das Schiff verlassen. Sie reisen dann innerhalb von zwei Wochen über Land wieder zurück nach Bergen. Meine Freundin heißt Katharina. Ich erzähle ihr, dass ich jemanden kenne in Bergen, eine Deutsche, die dort lebe. Sie heiße Brigitte B. und arbeite in Bergen an der Kulturschule im Fach Keramik. Katharina glaubt sie zu kennen. Ob sie so ungefähr mein Alter habe und auch Tierskulpturen herstelle. Ja, das sei sie, bestätige ich. Manchmal sei sie auch am Theater. Sie, Katharina, arbeite auch oft am Theater, nämlich als Requisiteurin. Als die beiden schließlich gehen müssen, verabschieden wir uns sehr herzlich voneinander und tauschen unsere E-Mail-Adressen aus. Wir werden voneinander hören.

Gegen 10 Uhr gehen wir an Land. Wir haben uns erklären lassen, dass man nur 25 Minuten braucht, um vom Anleger aus ins Zentrum von Kirkenes zu gelangen. Wir brauchen sogar trotz einiger Fotostopps nur 20 Minuten. Die Kirche, die wir uns zuerst anschauen möchten, ist leider geschlossen. Wir gehen ein wenig kreuz und quer durch den Ort. Es gibt sehr viele wunderschöne Holzhäuser, teilweise mit Balkon.

Auf der anderen Seite ist das Stadtbild von vielen Hotels und großen Industriegebäuden geprägt. Schön ist Kirkenes eigentlich nicht. Die Straßenschilder sind teilweise außer in norwegischer Schrift auch in kyrillischen Buchstaben beschriftet. Ein Hinweisschild weist in Richtung einer Touristeninformation. Wir folgen dem Pfeil und landen auf einem großen Marktplatz. Dort sind Infotafeln aufgestellt zu Kirkenes und seiner Geschichte. Es sieht so aus, als erschöpfe sich die Touristeninformation in diesen Tafeln. Einzig erblicken wir noch einen Tisch mit Broschüren, an dem ein junges Mädchen steht. Wir sprechen sie auf Englisch an und fragen, worum es geht bei ihrem Tisch. Wir erfahren, dass es um ein Museum geht, auf das sie aufmerksam machen will, das Grenzlandmuseum. Die Ausstellungen dort spiegeln wichtige Meilensteine der Grenzgeschichte wider wie die norwegische, finnische und russische Einwanderung. Wir lassen uns erklären, wie man zu dem Museum gelangt. Das ist gar nicht so einfach zu finden. Es liegt weit oberhalb des Zentrums. Das Mädchen empfiehlt uns, in dem Hotel gleich am Marktplatz einen Stadtplan zu holen. Dort sei das Museum eingezeichnet. Wir ergreifen die Gelegenheit, um etwas über das Leben in Kirkenes zu erfahren. Wir fragen sie, ob sie dort geboren sei. Sie sagt, geboren sei sie dort nicht, aber sie habe fast ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Wie es denn so sei, dort zu leben. „It is great.“ Johannes erwähnt, dass ja im Winter monatelang keine Sonne scheine. Sie bestätigt das und erzählt begeistert, dass von Oktober bis in den Mai hinein in Kirkenes Schnee liege. Sie geht noch zur Schule. Zurzeit seien aber Ferien. Im August gehe die Schule wieder los. Sie muss noch drei Jahre zur Schule gehen. Dann wolle sie eine Ausbildung zur Erzieherin machen. Zum Abschied erlaubt sie uns, ein Foto von ihr und mir zu machen.

Wir besorgen uns den Stadtplan und marschieren den langen Weg hinauf auf den Hügel, wo das Museum liegt. Gegenüber von dem Museumsgebäude befindet sich ein riesiger See mit einer Fontäne mitten darin. Als wir im Museum an den Tresen treten, fällt uns auf, dass wir wieder einmal nicht daran gedacht haben, Geld mitzunehmen. Darf das denn wahr sein? Wir haben weder Geld noch Ausweispapiere bei uns. Wenn wir jetzt aus irgendeinem Grund das Schiff vor dem Ablegen nicht mehr erreichen, haben wir ein echtes Problem. Wir setzen uns in der Museumsvorhalle, die schon sehr ansprechend gestaltet ist, in eine Sitzgruppe und ruhen ein wenig aus von dem anstrengenden Aufstieg.

Den Rückweg zum Schiff absolvieren wir auf einem anderen Weg. Dem Stadtplan entnehmen wir, dass man nicht mehr durch das Zentrum gehen muss, sondern oben herum vorbei an einem großen Friedhof schneller zur Anlegestelle kommt. Friedhof heißt hier Kirkegåta. Ich schicke meiner Schwester ein Bild als Anspielung auf unseren verehrten Philosophen Kierkegaard. Sie antwortet mit einem Kierkegaard-Zitat: „In den Kindern erlebt man sein eigenes Leben noch einmal, und erst jetzt versteht man es ganz.“ Sie wird gerade in diesem Moment zum zweiten mal Großmutter. Bei ihrer Schwiegertochter haben die Wehen eingesetzt. Das kleine Mäxchen wird höchstwahrscheinlich noch heute geboren werden.

Zurück auf dem Schiff gehen wir schon bald zum Mittagstisch. Nach der wieder einmal hervorragenden Mahlzeit halten wir ein ausgiebiges Mittagsschläfchen und werden erst von der Durchsage wach, die uns darauf hinweist, dass wir demnächst in Vardø anlegen. Wir stehen schnell auf, kleiden uns an und verlassen das Schiff am Anleger von Vardø. Später schreibe ich über die Kirche von Vardø einen Bericht für tripadvisor, wodurch auch die Beschreibung in meinem Blog wieder etwas ausführlicher ausfällt.
Bei der südgehenden Reise mit Hurtiguten hat man eine Stunde Aufenthalt in Vardø. Viel kann man sich nicht ansehen in der kurzen Zeit. Es wird empfohlen, die Festung Vardøhus zu besuchen. Man wird am Kai schon von Personen in historischen Uniformen erwartet, die einen zu der Burg führen wollen. Der größte Teil der Landgänger folgt ihnen. Wir aber haben von Deck aus schon die auf der anderen Seite des Hafenbeckens liegende interessante Kirche gesehen, die schneeweiß und spitz mit ihrem eigenartigen Turm über die Hausdächer ragt, und gehen dort hin. Der Fußweg dauert etwa 10 Minuten.

Wenn man hinübergeht auf den anderen Inselteil, blickt man von vorn auf die schneeweiße Frontseite der Kirche mit dem Haupteingang. Aus dieser Perspektive wirkt sie wie eine spitze Rakete, die jeden Moment in den Himmel abhebt. Der lange schlanke Turm mit seiner dreieckigen Spitze wird optisch verbreitert durch das weiter hinten ansetzende Hauptschiff und die Seitenschiffe, die dem Turmdreieck unten links und unten rechts zwei Stufen anfügen. Von der Seite wirkt die Kirche ganz anders. Die großflächigen Dächer von Turm und Haupthaus sind im eindrucksvollen Kontrast zu dem weißen Mauerwerk ganz schwarz und die Form des Turmes, die von vorne wie ein Dreieck aussieht, erweist sich bei seitlicher Betrachtung als ein Dreiecksprisma. Der Dachfirst des Turmes ist vorne und hinten mit je einem Kreuz geschmückt.

Im Innenraum werden wir sehr freundlich von einem jungen deutschsprechenden Norweger empfangen, der uns gerne durch die Kirche führen möchte. Er erklärt uns, dass es sich um eine evangelische Kirche handelt. Er weist uns zuerst auf das alte Altarbild des Künstlers Axel Ender aus dem Jahre 1895 hin, das rechts vom Altarraum hängt und den Titel „Es ist vollbracht“ trägt. Danach wendet er sich der riesigen dreieckigen Keramikarbeit von Margaret und Jens von der Lippe zu, die fast die gesamte dreieckige Wand hinter dem Altar ausfüllt. Der junge Mann erklärt uns, das Dreieck symbolisiere die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und heiligem Geist. Ganz oben sei der Heilige Geist in Form einer Taube dargestellt. Dieser leuchte von oben auf die von Kreuzen umgebene große Christusgestalt in der Mitte des Bildes, die an eine russische Ikone erinnere. Wir erfahren, dass man von Vardø aus bei guter Sicht bis nach Russland schauen kann. Im unteren Teil des Dreiecks sind Vögel im Laubwerk, Fische, Blumen und Ähren zu sehen, Zeichen für alle irdischen Freuden. Die beiden großen Halbkreise im Hintergrund der Christusfigur stehen für die großen Sakramente Taufe und Abendmahl, so erklärt man uns.
Es werden uns noch weitere interessante Objekte gezeigt wie z.B. ein ovales Bild hinten in der Kirche und ein Kreuz mit zwei Querbalken. Ausführliche Erklärungen dazu und zur Geschichte der Kirche sind nachzulesen in einem Faltheftchen, das in mehreren Sprachen in der Kirche ausliegt und nichts kostet.

Zum Abschluss der spontanen Kirchenführung setzt sich der junge Norweger an den Flügel, den es außer einer großen Orgel auch noch in der Kirche von Vardø gibt. Ich frage ihn, ob er mich vielleicht begleiten könne bei dem volkstümlichen Dona nobis pacem. Er lässt sich die Melodie von mir vorsingen und findet schnell die passenden Harmonien. Dann darf ich zu meiner großen Freude mein geliebtes Dona nobis pacem mit Klavierbegleitung erklingen lassen in der schönen Akustik dieser besonderen Kirche.
Bis zum Abendessen setzen wir uns in die Lounge. Beim Essen erfahren wir wieder eine Menge von Bernd und Willi. Willis Schwester ist schwer dement und lebt im Altersheim. Wir erzählen den beiden von Anton und Moritz und zeigen Fotos.

Heute haben wir per Durchsage die definitive Zusage bekommen, dass wir die Mitternachtssonne erleben werden. Daraus schließen wir, dass wir wenigstens nicht wieder in engen Fjorden herumfahren werden um Mitternacht. Momentan sieht der Himmel fast wolkenlos aus. Vielleicht haben wir wirklich Glück.

Wir verbringen die Zeit bis Mitternacht am Panoramafenster. Neben uns sitzen die Berliner und lesen in ihren Romanen. Um Mitternacht gehen wir alle an Deck. Man sieht die Sonne durch Wolkenfetzen hindurch noch relativ hoch am Himmel stehen. Wir sind unsicher, ob 12:00 Uhr wirklich die richtige Zeit für den Tiefststand der Sonne ist. Die Sommerzeit hat die Mitternacht ja um eine Stunde vorversetzt. Also warten wir, ob die Sonne in der nächsten Stunde noch weiter sinkt. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass dies der Fall ist. Genau kann man es nicht erkennen. Vorsichtshalber machen wir um 12:59 Uhr, um 1:00 Uhr und um 1:01 Uhr noch einmal Beweisfotos. Wir hatten uns die Bewegung der Mitternachtssonne eigentlich ganz anders vorgestellt. Wir hatten geglaubt, dass die Sonne parabelförmig den Horizont streift, dass sie von links oben herabkommt bis an den Horizont und dann nach rechts oben wieder hinaufsteigt. Die Sonnenuntergänge im Meer, die wir bisher beobachtet haben, liefen auch in einem viel größeren Tempo ab, so dass man geradezu glauben konnte, die Bewegungskurve zu sehen. Hier aber sinkt die Sonne so extrem langsam hinunter, dass man den Moment der Richtungsumkehr gar nicht wirklich ausmachen kann. Dennoch war es ein Erlebnis, die Sonne leuchten zu sehen um Mitternacht, wann immer auch der genaue Mitternachtszeitpunkt ist.

Hallo, Alice,!
Mit Begeisterung habe ich Deinen Hurtigruten-Reisebericht gelesen!
Diese Reise haben wir im Juni/Juli 2014, in ähnlicher Reihenfolge mit dem Postschiff
„Vesteralen“ gemacht…. ab Bergen/Kirkenes und zurück.
Liebe Grüße, Mechthild u Onkel Wolfgang