7. Juli. Wir frühstücken ausgiebig. Schon gegen 10 Uhr wird für einen Brunch eingedeckt, den es heute statt des Mittagessens gibt. Um 11:15 Uhr werden wir in Honningsvåg anlegen, von wo aus Expeditionen an das Nordkap abfahren. Honningsvåg ist der Verwaltungssitz der Gemeinde Nordkapp. Damit man sich vor dem Landgang noch sättigen kann, ist für heute die Essenregelung einmal abgeändert worden. Wir haben keinen Ausflug an den Nordkap gebucht, weil wir uns haben sagen lassen, dass es dort nichts wirklich Spektakuläres zu sehen gibt. Dort gewesen zu sein, sei das Wesentliche. So wesentlich finden wir das nicht, dass wir bereit sind, zwei mal 150 Euro für den Ausflug auszugeben. Also nehmen wir uns vor, auf eigene Faust den Ort Honningsvåg zu erkunden. Vielleicht können wir einmal aus dem Ort herausgehen und das Hinterland entdecken. In der Touristeninformation fragen wir noch, ob wir mit einem normalen Bus auch an das Nordkap gelangen können. Das ist tatsächlich möglich, kostet auch nur 50 Euro pro Person. Wir überlegen kurz, finden dann aber doch die Wanderung ins Hinterland interessanter. Wir erhalten eine Citymap und einen Hinweis auf einen Wanderweg, der auf den Berg hinaufführt zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man über die ganze Stadt schauen kann. Zuerst wollen wir uns die Kirche aus dem Jahr 1884 anschauen. Sie stellt das einzige alte Bauwerk in Honningsvåg dar. Alle anderen alten Gebäude von Honningsvåg sind 1945 von den Deutschen zerstört worden.
Auf dem Weg zur Kirche begegnen wir meiner norwegischen Freundin mit dem kurzen Haar. Diesmal ist sie alleine unterwegs. Sie begleitet uns zu der alten Kirche, die glücklicherweise offen ist. Der Innenraum ist sehr schlicht mit weiß gestrichenem Holz gestaltet. Das große Altarbild stellt einen Christus mit Heiligenschein dar, der im Wasser steht und einen armen im Wasser knienden und flehenden Bettler segnet. An der Decke hängt ein Segelschiff. Als wir die Kirche wieder verlassen, treffen wir draußen das englische Paar aus London. Sie freuen sich, dass die Kirche offen ist. Später wollen sie uns auf den Berg hinauf folgen. Sie selbst besitzen keinen Stadtplan. Die junge Norwegerin will nicht mit auf den Berg hinaufsteigen.
Wir nehmen jetzt Kurs auf den Berg mit dem Aussichtspunkt. Es geht sehr steil bergauf. Wir lassen uns nicht beirren. Mir scheint, dass man einen Punkt erreichen kann, von dem aus man über den Berg hinweg schauen und sehen kann, was dahinter liegt. Immer wieder glauben wir, diesen Punkt gleich erreicht zu haben. Und immer wieder geht es doch noch weiter bergauf. Aber endlich kommen wir doch an. Es steht sogar eine Picknickbank an der Stelle. Wir blicken nicht ganz weit ins Land hinter dem Berg. Aber es öffnet sich der Blick in ein hohes Tal, das von mehreren Bergen umgeben ist. Es wachsen nur noch ganz kurze bodenbedeckende Pflanzen hier, die den Bergen einen grünen Anstrich geben. Wir nehmen auf den Sitzbänken an dem Holztisch Platz. Kleine Mücken, die uns schon eine Weile piesacken, umschwirren uns im Schwarm. Es ist ganz still hier oben. Unglaublich schön und unberührt.
Wir kommen um halb zwei zurück zum Schiff und wollen gleich ins Restaurant essen gehen. Zu unserem Bedauernmüssen wir feststellen, dass der Brunch bereits vorbei ist. Schon um 13:00 Uhr war er zu Ende. Hungrig setzen wir uns in die Panoramalaunch, die momentan ziemlich leer ist. Ich hole uns einige Plätzchen und Äpfel aus der Kabine. Draußen regnet es und die vorüberziehenden Berge sind vom Nebel verhangen. Neben uns setzt sich meine norwegische Freundin mit ihrer älteren Begleitung hin und strickt an dem blauen Pullover mit dem komplizierten Muster, der für ihren Bruder bestimmt ist. Nach zwei Stunden etwa fallen mir ein wenig die Augen zu. Wir legen uns für ein Stündchen ins Bett. Als wir gegen fünf Uhr wach werden, schlage ich Johannes ein Bad im Whirlpool vor. Zu meiner großen Überraschung stimmt er zu. Ich begleite ihn bis zu seiner Herrenumkleide. Kurz drauf liegen wir in dem herrlich heißen Becken. Das Schiff legt gerade von Kjollefjord ab. Der Pool sprudelt zwar im Moment noch nicht, aber wir genießen das Bad uneingeschränkt. Anders als in der Badewanne kühlt das Wasser nicht ab im Laufe der Zeit. Man könnte stundenlang liegen bleiben ohne das Bedürfnis, auszusteigen. Irgendwann setzt das Sprudeln ein und wir genießen es nun noch ein wenig mehr.
Nach dem Bade gehe ich noch für 15 Minuten in die Sauna. Jetzt dauert es nur noch eine Stunde bis zu unserer Abendessensschicht. Unser Hunger ist aufgrund der ausgefallenen Mahlzeit schon deutlich zu spüren. Wir gehen bereits um Viertel nach sieben zum Restaurant, weil wir noch klären müssen, warum von Johannes Bierpaket weit mehr abgebucht worden ist, als er getrunken hat. Wir können dies mit dem Chef des Restaurants besprechen. Er vermutet den Fehler darin, dass einige neue Serviererinnen sich nicht die Karte geben lassen, wenn Bier bestellt wird. So kann leicht jemand, der einmal an unserem Tisch sitzt, unwissentlich Bier bestellen, das bei uns abgebucht wird. Die Differenz beträgt immerhin 8 Biere, was etwa 80 Euro entspricht.
Obwohl wir noch etwas zu früh sind, nehmen wir schon unsere Plätze an Tisch 23 ein. Wir stellen überrascht fest, dass heute Abend nicht serviert wird. Es ist ein Buffet aufgebaut. Wir warten nicht auf unsere Freunde, sondern holen uns schon etwas zu essen. Schon bald erscheinen Bernd und Willi und haben natürlich viel zu erzählen. Sie haben den Ausflug zum Nordkap mitgemacht und haben dort eine Stelle gefunden, wo sie ihr Liebesschloss anbringen konnten. Sie zeigen uns ein Foto. Es sind nur zwei rote Herzen auf dem Schloss zu sehen, keine Namen. Sie selbst wüssten es ja, dass es ihr Schloss ist.
Es gibt Rentierfleich in Gulaschform und Lachs, herrlichen frischen Lachs. Zum Lachs wird eine Zwiebelsauce auf Sojabasis angeboten. Ich finde, das passt nicht so recht. Nach dem Essen bleiben wir wieder lange sitzen und reden mit den beiden Jungs. Hauptsächlich schwärmen sie von ihrer Hochzeit. Einige Monate zuvor hat Willi noch eine schwere Operation gehabt. Er hatte sich bei einem Sturz auf dem vereisten Bürgersteig das Schienbein schwer verletzt. Zum Zeitpunkt der Hochzeit war das Bein noch dick verbunden. Zum Standesamt waren 170 Personen eingeladen, der ganze Chor von Bernd, Familie, Kollegen, Freunde. Die Feier fand mit allen Schikanen statt. Luftballons, Seifenblasen, Gesang. Im Anschluss an die Feier im Rathaus ging es mit 50 engeren Gästen noch weiter in ein Restaurant.
Beim Verlassen des Restaurants treffen wir noch einmal das englische Ehepaar aus London. Sie berichten uns, dass sie nachdem sie uns vor der Kirche in Honningsvåg getroffen hatten, mehrere Rentiere gesehen hätten. Die waren einfach die Straße entlang gelaufen. Sie zeigen uns Fotos von der Begegnung. Wir sind schwer beeindruckt. Den Aufstieg auf den Berg hätten sie sich dann lieber doch nicht zugemutet. Die beiden werden morgen früh das Schiff verlassen und mit dem Flugzeug nach London zurückkehren. Wir verabschieden uns sehr herzlich.
An diesem Abend bleiben wir nicht bis Mitternacht wach. Die Chance, die Mitternachtssonne zu sehen, ist heute gleich Null.