6. Juli. Ich stehe spät auf. Trotzdem absolviere ich mein tägliches Training im Fitnessraum. Beim Frühstück begegnen wir dem Mutter-Tochter-Paar aus Hannover. Ich frage die Tochter nach ihren Erlebnissen gestern auf der Bootsafari zum Saltstraumen, dem stärksten Gezeitenstrom der Welt. Sie äußert sich sehr begeistert. Zwar sei der Strom nicht wirklich großartig gewesen, weil der Zeitpunkt ungünstig gewesen sei (siehe gestern: zum Zeitpunkt der maximalen Flut ist die Strömungsgeschwindigkeit gleich Null), aber das sei ihr nur recht gewesen, weil sie sonst bestimmt Rückenprobleme bekommen hätte. Sie hätte schon zweimal einen Bandscheibenvorfall erlitten. Aber ganz großartig seien die springenden Heringsschwärme gewesen und die Seeadler, alte und junge, die ganz nah herangekommen seien.
Das heutige Highlight ist der mehr als vierstündige Aufenthalt in Tromsø, der größten Stadt in Nordnorwegen. Sie wird auch das Tor zum Eismeer genannt, weil von hier Nordmeer- und Polarexpeditionen ausgehen. Unser Schiff hat von 14:15 Uhr bis um 18:30 Uhr seinen Aufenthalt in Tromsø. Wir wollen natürlich einen Stadtrundgang machen. Bis dahin haben wir aber noch viel Zeit. Wir setzen uns wieder in die Lounge. An Deck ist es heute ungemütlich kühl. Der Himmel ist von Wolken verhangen. Wir lesen über Tromsø, ich schreibe über gestern, wir schauen hinaus. Es ist unglaublich wohltuend und erhebend, den Blick über die schimmernde Wasserfläche und die grünen Hügel vor den schneebedeckten schroffen Bergen schweifen zu lassen.
Um halb zwölf ergeht ein Aufruf, man solle jetzt zum Essen gehen, wenn man vorhätte in die Stadt zu gehen. Später werde es eng werden im Speisesaal. Wir lassen uns nicht irritieren. Wir gehen um 13:15 Uhr essen. In einer Stunde legen wir ja erst in Tromsø an. Als wir den Speisesaal betreten, platziert man uns an einem bestimmten Tisch, an dem auch ein englisches Paar unseres Alters sitzt. Wir unterhalten uns mit den beiden. Sie wohnen in London. Schon vor 40 Jahren haben sie dort ein Haus gekauft. Es sei schlimm, wie schwer es heute für die jungen Leute sei, zu bauen. Reiche Scheiche kauften die Grundstücke und Häuser auf und trieben die Preise in die Höhe. Die Regierung gehe nicht vor dagegen. Das sei gewollt so. Wir unterhalten uns auch über den Brexit. Die beiden schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Das sei schrecklich. 80% der Londoner seien dagegen. Es seien mehr die einfachen, ärmeren Leute, die gegen die EU gestimmt hätten. Wir reden auch über die Sehenswürdigkeiten von Tromsø. Die beiden wollen unbedingt die Eismeerkathedrale anschauen. Wir machen sie darauf aufmerksam, dass sie sich auf der anderen Fjordseite befinde und dass der Fußweg über die Brücke ca. eine halbe Stunde dauere. Das wussten sie nicht und sie sind dankbar für die Information. Wir selbst schauen uns heute nicht die Eismeerkathedrale an, weil wir auf der südgehenden Fahrt noch in die Kirche kommen werden. Wir haben für den Tag 8 das Mitternachtskonzert in der Eismeerkathedrale gebucht. Wir nehmen auch inzwischen Abstand von dem Vorhaben, mit der Kabinenbahn Fjellheisen, die ihre Talstation ebenfalls auf der anderen Seite des Fjords hat, auf den Berg Storsteinen zu fahren, von dem aus der Ausblick grandios sein soll. Die Bergspitzen liegen so sehr im Nebel momentan, dass wir von oben nichts von der Stadt würden sehen können.
Wir ziehen uns warm und regendicht an und verlassen das Schiff für den Stadtrundgang. Zuerst werden wir über eine Rolltreppe in ein Gebäude geführt, in dem sich auch die Touristeninformation befindet. Einen Plan haben wir bereits. Den habe ich wie gestern für Bodø wieder von der Reiseleiterin einer der Gruppenreisen geschenkt bekommen. Allerding nehmen wir noch einen zweiten Cityplan mit. Er sieht ein wenig anders aus als der, die ich bekommen habe. Wir gehen in die Stadt. Es ist ziemlich kalt und es nieselt. Johannes meint, das sei kein Regen, sondern einfach nur eine hohe Luftfeuchtigkeit. Das gefällt mir, das ist angewandter Konstruktivismus. Schon sehe ich die Tropfen in meinem Haar weniger dramatisch. Wir gehen zuerst zu dem Park, den die Gruppenleiterin ihren Gruppenmitgliedern empfohlen hatte. Der Zutritt sei früher Frauen verwehrt gewesen. Wir sind sehr schnell da. Die Entfernungen sind weit kleiner als wir gedacht hatten. Der Park ist völlig unspektakulär und winzig klein. Wir gehen einmal hindurch. Es gibt eine große Skulptur aus Metall und ein Gebäude namens Tromsø Kunstforening.
Wir gehen wieder zurück, entlang der Storgata, vorbei an der Mack-Brauerei und dem zugehörigen Pub Olhallen, in den Bernd und Willi auf jeden Fall einkehren wollen. Man kann dort unzählige Biersorten vom Fass probieren. Wir gehen weiter und stöbern kurz in einem Lebensmittelladen. Wir finden nichts Kaufenswertes und verlassen den Laden durch den Ausgang auf der anderen Seite wieder. Nun befinden wir uns auf der Strandgata. An einem großen Stadtplan halten wir an, um noch weitere Sehenswürdigkeiten zu entdecken. Da spricht uns ein Radfahrer auf Deutsch an und fragt uns, woher wir denn unseren Faltplan hätten. Wir schenken ihm einen unserer beiden Pläne. Er kommt aus Freiburg und war eine Etappe mit unserem Hurtigrutenschiff mitgefahren. Nun setzt er seine Reise wieder mit dem Fahrrad fort. Sein Gepäckträger ist mit zwei Seitentaschen und einem Zelt schwer bepackt. Er will jetzt Vesteralen durchqueren, die Inselgruppe nördlich von Lofoten. Er mache zum vierten Mal hier im Norden von Norwegen Urlaub. Wir fragen ihn, was ihn am meisten reize an Nordnorwegen. Er äußert ganz klar, dass es die Landschaft sei. Dann interessiert uns noch, warum er ganz alleine reise. Er meint, in seinem Alter (er ist 69 Jahre alt) fände man niemanden mehr, der mitreisen wolle. Aber auf den Campingplätzen habe er immer wieder schöne Begegnungen. Er fühle sich nicht allein. Dann erklärt er uns seine besondere Vorrichtung zum Aufladen des Fotoapparates, die er am Dynamo angebracht hat. Strom zu bekommen, sei immer etwas schwierig. Wir verabschieden uns und wünschen ihm eine gute Weiterreise.
Die Domkirche von Tromsø ist umgeben von Bauzäunen und Baggerlärm. Wir versuchen an drei Türen, hineinzukommen. Alle drei sind verschlossen. Später werden wir von dem englischen Paar aus London erfahren, dass die vierte Tür wohl offen gewesen sein muss. Das wiederum haben sie von anderen deutschen Reisenden erzählt bekommen.
Es regnet jetzt etwas stärker. Ich ziehe mir die Kapuze meiner pinkfarbenen Regenjacke über den Kopf. Auf der Suche nach einem Schutz vor dem Regen entdecken wir eine große Bibliothek. Mit ihrem bogenförmig geschwungenen Dach und der riesigen Glasfront wirkt sie fast futuristisch. Wir gehen hinein und bestaunen die imposante luftige Raumkonstruktion mit einem schwerelos wirkenden offenen Treppenhaus mit kreuz und quer laufenden Metallgeländern, das Einblick in die fünf Stockwerke gewährt. Wir lassen die Blicke schweifen uns stoßen auf zahllose kleine Szenen. Vor einem Bücherregal sehen wir eine junge Schwarze zu für uns unhörbarer Musik aus ihren Ohrstöpseln überaus ästhetisch hin und her tänzeln. Auf einer Lesecouch liegt ein Rucksackwanderer und schläft. Wir setzen uns auf zwei Barhocker an ein von Kinderhand bemaltes Fenster und lassen diese ganz besondere Atmosphäre der Bücherwelt auf uns wirken. Schließlich treten wir wieder hinaus in den Nieselregen.
Wir hatten eben in der Strandgata ein schönes Café gesehen. Das suchen wir jetzt gezielt auf. Es heißt riso mat & kaffebar. Wir setzen uns auf zwei Barhocker an einen hohen Tisch am Fenster und bestellen je einen Cappuccino. Der Kellner stellt die Tassen vor uns hin und wartet irgendwie auf eine Reaktion von uns. Da endlich bemerken wir es. Aus Milchschaum ist auf der einen Tasse eine Frau gezeichnet, auf der anderen Tasse ein Mann mit Blumenstrauß. Der Kellner erklärt uns, dass das Johannes sei, der mir Blumen schenke. Später sehen wir, dass das Toilettensymbol ebenfalls mit diesem Motiv gestaltet ist.
Wir sitzen schon ein Weilchen an unserem schönen Fensterplatz, als wir meine norwegische Freundin mit dem kurzen Haar in Begleitung einer älteren Dame eintreten sehen. Die beiden gehen einmal durch das ganze Café und sehen so aus, als wollten sie das Lokal schon wieder verlassen. Ich winke ihnen zu und sie treten an unseren Tisch. Ich biete an, sie könnten sich zu uns setzen. Meine Freundin weist nur kopfschüttelnd auf die Dame und meint: „She has to decide.“
Wir kehren zum Schiff zurück und machen erst einmal ein Mittagsschläfchen. Danach begeben wir uns wieder in die obere Decklounge. Dort treffen wir das schwedische Paar, das an einem großen See 200 km nördlich von Malmø lebt, und tauschen unsere Erlebnisse aus. Noch ist das Schiff nicht ausgelaufen. Um 18:30 Uhr schließlich legt es ab und wir fahren unter der imposanten Tromsø-Brücke hindurch. Sie verbindet die Insel, die den Stadtkern enthält, mit dem Festland, auf dem sich die Eismeerkathedrale befindet. Das englische Paar aus London wird uns morgen erzählen, dass sie mit dem öffentlichen Bus hinüber gefahren sind und die Kathedrale glücklicherweise offen vorgefunden haben. Die beiden verlassen das Schiff in Kirkenes und haben nicht wie wir, die Möglichkeit, die Eismeerkirche noch auf der südgehenden Fahrt zu besichtigen.
Nach einer Stunde ist es schon wieder Zeit, essen zu gehen. Wir freuen uns auf unsere Freunde Bernd und Willi. Sie sitzen schon auf ihren Plätzen und begrüßen uns herzlich. Wir berichten uns gegenseitig von unseren Erlebnissen in Tromsø. Wir bleiben nach dem Essen noch lange zusammen im Speisesaal sitzen. Die beiden erzählen uns von ihrer traumhaften Hochzeitsfeier und dass diese Reise ihre Hochzeitsreise ist. Sie verraten uns ihr Vorhaben, ein Liebesschloss am Nordkap anzubringen. Schließlich erzählen auch wir unsere Geschichte. Die beiden sind sichtlich beeindruckt und sehr interessiert.
Den Rest des Abends verbringen wir wieder in der Lounge. Draußen ist es grau und voller Nebel. Man sieht nicht viel. Gegen halb eins gehen wir ins Bett. Wieder einmal haben wir die Mitternachtssonne nicht zu Gesicht bekommen.