5. Juli. Wieder mache ich mich nach dem Aufstehen eine Viertel Stunde lang auf Deck 8 fit. Dann gehen wir ausgiebig frühstücken. Um 10 Uhr gibt es an Deck eine kleine Veranstaltung, weil wir in der Nacht den Polarkreis überfahren haben. König Neptun gibt uns in aufwändiger Verkleidung die Ehre. Es findet die Polarkreistaufe statt. Ein jeder ist aufgefordert, sich Eiswasser in den Ausschnitt gießen zu lassen. Anschließend gibt es zum Wiederaufwärmen ein Glas Champagner. Wir schauen uns das Spektakel an, lassen uns aber nicht taufen.
Es ist ein wenig windig draußen und wir setzen uns ans Panoramafenster, um zu lesen oder zu schreiben. Heute Mittag werden wir für zweieinhalb Stunden in Bodø anlegen, einer Stadt, die nicht übermäßig sehenswert sein soll. Sie ist im zweiten Weltkrieg von den Deutschen vollständig zerstört worden, so dass es keine historischen Gebäude gibt. Wir möchten aber trotzdem hineingehen und uns ein wenig bewegen. Man sitzt extrem viel bei dieser Reise. Das Schiff hat von 12:30 Uhr bis 15:00 Uhr seinen Aufenthalt in Bodø. Das ist sehr ungünstig, um auch noch das Mittagessen unterzubringen. Da wir sehr spät gefrühstückt haben, verspüren wir um 11:30 Uhr (ab da gibt es das Mittagsbuffet) überhaupt noch keinen Hunger. Um 14:00 Uhr endet aber die Essenszeit. Wir beschließen, um 12:30 Uhr essen zu gehen. Bis dahin ist noch eine Stunde Zeit. Wer weiß, ob wir dann nicht schon wieder etwas essen können.
Wir nehmen hauptsächlich Salat vom Buffet, dazu ein wenig von dem Schweinebraten. Zum Nachtisch holen wir uns wie immer eine Portion Eis und diesmal noch einige Erdnussschnittchen, kleine Küchlein, die hervorragend schmecken. Ich sehe schwarz für meine Figur. Ich habe schon angefangen, beim morgendlichen Fitnesstraining mein Gewicht zu kontrollieren.
Als wir unseren Stadtrundgang durch Bodø antreten, ist es erst 13:15 Uhr. Wir haben gute eineinhalb Stunden Zeit. Das reicht sicher für den Dom, der die einzige Sehenswürdigkeit darstellt, und für die eine Besorgung, die ich erledigen will. Ich möchte mir ein Notizbüchlein kaufen für meine Aufzeichnungen unterwegs. Wir brauchen nur 10 Minuten bis wir uns auf der Haupteinkaufsstraße von Bodø befinden. In der Touristeninformation fragen wir nach einem Schreibwarenladen. Man schickt uns in eine nahegelegene Einkaufspassage, in der sich ein Buchladen befinde. Der Laden bietet eine unglaubliche Auswahl an Kladden in jeder Größe. Ich wähle ein erstaunlich preiswertes Ringbüchlein mit mathematischem Ornament auf seinem Cover.
Wir treten auf der anderen Seite wieder hinaus aus dem Gebäude und sehen schon oben am Berg eine große Kirche. Wieder nehmen wir an, das sei schon der Dom. Von oben kommen uns Bernd und Willi entgegen, unsere Freunde und Tischnachbarn vom Abendmenü. Sie erklären uns, dass dies nicht der Dom sei. Aber gleich rechts um die Ecke würden wir ihn sehen. Ich zeige den beiden mein Fundstück und berichte über die banale Freude, mit einer waschechten Norwegerin aus Bodø geplaudert zu haben.
Wir gehen weiter zum Dom von Bodø, der evangelisch-lutherischen Bischofskirche. Bodø gehört zur Provinz Nordland. Die ursprüngliche Kirche wurde 1940 von den Deutschen bei dem „Unternehmen Weserübung“ vollständig zerstört. Die neue Kirche wurde in den 1950-er-Jahren erbaut. Von außen fällt der vom Kirchengebäude isolierte Glockenturm auf, eine durchsichtige Ständerkonstruktion aus Beton. Die Kirche bietet auch von innen einen ungewöhnlichen Anblick. Es gibt auf den ersten Blick nur ein langgestrecktes Hauptschiff, keine Seitenschiffe. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die Seitenschiffe mit dem Hauptschiff verschmelzen, weil sie nicht durch Säulen oder Wände optisch abgetrennt sind. Die leicht gewölbte weiß getünchte Decke setzt sich von oben in je zwei Stufen nach rechts und links unten fort. Die schlichten rechteckigen Fenster in jeder der drei Etagen bilden einen wirkungsvollen Kontrast zu dem imposanten riesigen Buntglasfenster hinter dem Altar, das aus zwölf annähernd rechteckigen Einzelfenstern zusammengesetzt ist. Die Glasmalerei zeigt im Zentrum eine Christusdarstellung. Das Farbenspektrum des Fensters wird dominiert von der Farbe blau, genauso wie bei dem beeindruckenden Rosettenfenster über der Hauptorgel. Es gibt nur ein kleines Seitenkapellchen. Es setzt den Altarraum nach rechts hin ohne Abtrennung fort. Vom rechten Seitenschiff aus gelangt man durch eine Wandöffnung in Form eines Rechtecks mit aufgesetztem Dreieck in die Kapelle. Auch hier findet sich wieder ein farbenprächtiges Buntglasfenster, dessen Licht von dem hellen Marmorboden zurückgespiegelt wird. Wie die ganze Kathedrale besticht auch die Kapelle durch ihre Klarheit und Schlichtheit.
Die Beschreibung der Kirche ist außergewöhnlich ausführlich geraten, weil ich plötzlich Freude daran hatte, die überaus dürftigen Beiträge zu diesem Dom im Internet zu bereichern. Ich habe auch drei unserer Fotos hochgeladen.
In der Seitenkapelle habe ich es gewagt, hinter einem Mauervorsprung das Dona nobis pacem zu singen, zuerst ganz leise. Dann etwas lauter. Es klang schön in der Akustik des großen Raumes. Kaum endete mein Lied, setzte von der Orgelempore her bombastische Orgelmusik ein. Ich erschrecke und begreife nicht. Hatte der Organist abgewartet bis mein Lied zu Ende war? Wir setzen uns in die erste Bankreihe und lauschen der großartigen Musik. Das kann nur Bach sein, war mein erster Gedanke, weil nur Bach so etwas Großartiges komponieren kann. Aber die Musik klingt irgendwie moderner. Ich will unbedingt herausfinden, wer der Komponist ist. Wir versuchen auf mehreren Wegen, auf die Orgelempore hinauf zu gelangen. Und tatsächlich, der letzte Versuch ist von Erfolg gekrönt. Die Tür zur Orgelempore lässt sich öffnen. Vorsichtig treten wir ein. Der Organist, der gerade eine kleine Pause macht, winkt uns zu sich. Wir fragen ihn nach dem Komponisten des ersten von ihm gespielten Stückes. Er nimmt einen Fetzen smaragtgrünen Papiers und schreibt mit schwarzem Filzstift den Namen und das Werk für uns auf: Charles-Marie Widor, Toccata, Symphonie Nr. 5. Dabei schwärzt er so sehr seinen Daumen, dass er die Hände nicht wieder auf das Manual legen kann. Mühsam reinigt er sich die Hand mit einem Taschentuch. Wir bedanken uns herzlich und nehmen Abschied. Wieder einmal eine besondere Begegnung . Ich lege aus Dankbarkeit 100 NK in den Opferstock.
Wir haben noch ein wenig Zeit, einen Kaffee trinken zu gehen. Auf der Haupteinkaufstraße gleich neben dem Touristenbüro lockt uns oben in der ersten Etage ein sonnenbeschienener Balkon mit kleinen Tischchen, an denen bereits einige Leute sitzen. Es handelt sich um das Hundholmen Brygghus. Wir treten ein und bestellen je einen Cappuccino. Wir bezahlen gleich mit Karte, was hier absolut üblich ist. Unter dem angezeigten Geldbetrag hat man unter „total“ die Gelegenheit, noch ein Trinkgeld zu geben. Das wird in Norwegen nicht unbedingt erwartet, aber freudig aufgenommen. Man wird uns unser Getränk später hinaufbringen. Wir steigen die Treppe in die erste Etage hoch, von wo man einen Überblick über das sehr besondere Lokal hat. Eine riesige Deckenlampe, die aus leeren Bierflaschen gestaltet ist, schmückt den etwas düsteren Raum mit seinem dunkelbraunen glänzenden Holztresen. Im Hintergrund sieht man riesige Metallbehälter. Wir vermuten, dass sie dem Bierbrauen dienen. Draußen sitzen wir sehr schön. Viel Zeit haben wir nicht mehr bis wir zum Schiff zurückkehren müssen. Aber wir genießen die kleine Pause in Bodø sehr.
Zurück im Schiff begibt sich Johannes in unsere Kabine. Ich verbringe noch einige Zeit an Deck, weil ich gehört hatte, dass man beim Auslaufen aus Bodø noch sehr schön sehen kann, wie die Einheimischen an der Küste leben. Ich stelle mich an die Reling und fotografiere die vorüberziehende Stadt Bodø mit ihrem prächtigen Yachthafen. Schon bald entfernen wir uns von der Stadt und es tauchen immer wieder kleine Häuseransammlungen auf. Neben mir steht eine junge Frau mit sehr kurzem Haar, mit der ich ins Gespräch komme. Sie ist Norwegerin und lebt in Bergen. Sie macht die Hurtigrutenreise bis Kirkenes und kehrt dann durchs Landesinnere mit dem Auto innerhalb von zwei Wochen wieder zurück nach Bergen. Sie erklärt mir, dass die Menschen in den versprengten Häusern nur über Wasser woanders hinkommen. Es gibt keine Straßen. Sie erzählt mir auch von den vielen Lachsfarmen, die sie schon beobachtet hat. Ich hatte noch keine einzige gesehen. Aber ab jetzt werde ich darauf achten. Nach einer Weile verabschiede ich mich und begebe mich auch in die Kabine, um ein wenig auszuruhen. Heute Nacht werden wir ja bis Mitternacht aufbleiben, um die Mitternachtssonne zu sehen. Der blaue Himmel lässt es sehr wahrscheinlich erscheinen, dass es klappen könnte.
Nach der Erholungspause begeben wir uns in die Panoramalounge. Es sind zwei Sessel vorne im Bug frei. Neben mir sitzt ein junger Mann, der eingenickt ist. Als er aufwacht, ergibt sich zwischen uns dreien ein sehr persönliches intensives Gespräch. Wir berichten von unserem Ausflug, den wir gleich machen werden, nämlich der Lofoten-Exkursion. Er ist schon mittags zu einem Ausflug zum Gezeitenstrom unterwegs gewesen und berichtet, dass der Ausflug eine Enttäuschung gewesen sei, weil nämlich die Flut genau auf ihrem Höhepunkt gewesen sei und gar kein starker Strom geherrscht hätte. Später fällt mir zu dem Thema ein, dass es sich wunderbar für den Mathematikunterricht der Oberstufe eignen würde. Nämlich dieser Gezeitenstrom ist in seiner Stärke nichts anderes als die momentane Änderungsrate. Zum Zeitpunkt der höchsten Flut ist die Änderungsrate gleich Null. (Notwendige Bedingung für Extrema) Es ist schon fast sieben Uhr und unser spontan erst heute gebuchter Ausflug auf Lofoten beginnt gleich. Wir müssen uns verabschieden. Es war schön, den jungen Alleinreisenden kennengelernt zu haben. Er ist ebenso erfreut wie wir.
Am Kai von Stamsund wartet schon der Ausflugsbus. Diesmal sind wir nicht nur deutsche Teilnehmer. Es sind auch Norweger, Engländer und sogar Franzosen im Bus. Der Reiseleiter spricht alle Sprachen. Seine Vorträge hält er aber nur auf Deutsch und auf Englisch. Er erzählt uns von den Menschen und Lebensgewohnheiten auf Lofoten und von den Vikingern, zu denen wir ja unterwegs sind.
Wir besuchen ein Häuptlingshaus, das vollständig im vermuteten Original wieder aufgebaut worden ist. Wir werden vom Häuptling und seiner Frau empfangen und in einen großen Festsaal geführt, wo schon Trinkgläser und Besteck bereitgestellt sind. Wir sitzen in einem großen Raum mit offenem Feuer in der Mitte an langen Holztischen. Jeder hat zwei Gläser in spiralförmigen Metallhaltern vor sich stehen. Das Besteck besteht aus einem scharfen Schneidemesser und einem Löffel. In das eine Glas wird von zwei Sklavinnen Wasser, in das andere das Vikingergetränk Met ausgeschenkt, das sehr süß schmeckt und viel Alkohol enthält. Laut prosten wir alle uns gegenseitig mit „Skål“ zu. Das aufgetragene traditionelle Essen besteht aus Kartoffelscheiben, Brot und Butter, Karotten und gekochtem Lammfleisch. Es schmeckt sehr gut. Wir werden die ganze Zeit unterhalten von dem Schauspiel der Vikingerdarsteller. Die Sklavinnen singen und tanzen zu Trommelklängen. Am Ende werden wir alle auf die Tanzfläche in die Mitte gebeten und erlernen einige einfache Schritte eines Folkloretanzes.
Es gibt noch ein Museum, in dem wir uns umschauen und einen Museumsshop, in dem ich mir ein warmes Stirnband kaufe. Dann treten wir die längere Busfahrt zur nächsten Anlegestelle der Hurtigruten in Svolvaer an. Das wundervolle Abendlicht lässt die Landschaft einfach traumhaft aussehen. Noch hoffen wir auf das Erlebnis der nicht untergehenden Sonne heute Nacht. Die Chancen stehen gut.
Auf dem Schiff begeben wir uns wieder in die Panoramalounge. Nach dem süßen Gesöff freue ich mich auf ein schönes herbes Bier. Der Himmel sieht immer noch so aus, als könne es klappen mit der Mitternachtssonne. Insbesondere am Horizont ist es völlig wolkenlos. Doch je mehr wir uns der magischen Stunde nähern, desto mehr sind wir von hohen Bergen umgeben. Schließlich befinden wir uns gar in einer engen Schlucht wie dem Geiranger Fjord. Dieser Fjord heißt Trollfjorden. Rechts und links vom Schiff ragen in kürzestem Abstand steile Wände auf. Als es 12:00 Uhr ist, haben wir den Fjord noch nicht wieder ganz verlassen. Die leuchtende Kugel ist schon seit Stunden nicht mehr sichtbar gewesen, auch jetzt nicht. Und auch in der nächsten Stunde ändert sich nichts daran. Wir gehen ins Bett.