Gesichter. Sie stellen das Hauptmotiv dar in diesem Bild. Die Welt, angedeutet durch die drei blauen Stadthäuser, tritt in den Hintergrund. Im Vordergrund sehen wir ein Selbstportrait der Portraitmalerin Vigée Le Brun, in dem sie sich als Portraitierende portraitiert. Mit aufmerksamem Blick schaut sie vermutlich auf ihr Modell. Auch das kleiner eingefügte Selbstportrait unten rechts zeigt sie mit wachem Blick und den ihr wesentlichen Attributen Pinsel und Palette. Karl H. fügt dem Bild weitere weibliche Gesichter hinzu. Zunächst sieht man vor allem das große nur grob skizzierte mit einer orangen Wolke verschmelzende Gesicht am rechten Bildrand. Es wirkt sehr ernst und scheint mit seinen weit geöffneten Augen vor allem zu schauen. Oben links im Bild sehen wir umhüllt von blauem Dunst ein quadratisch eingerahmtes weibliches Profil, das starr geradeaus blickt. Darüber ein schlafendes Gesicht. Die geschlossenen Augen thematisieren in negativer Form wiederum das Schauen. Betrachten wir noch einmal genauer die orange Wolke, zeigt sich ein kaum wahrnehmbares weiteres Frauengesicht, von dem fast nur die leicht zusammengekniffenen Augen erkennbar sind. Genau im Schnittpunkt der beiden Bilddiagonalen, die Karl H. durch das Arrangement der Gesichter optisch betont, schaut uns das Augenpaar von Vigée Le Brun an. Sie malt nicht, sie schaut. Sie ist ganz „Gesicht“. Womöglich schaut sie in einen Spiegel und portraitiert gerade sich selbst. Das künstlerische Schauen als fundamentales Prinzip des Malens schaut hier sein eigenes Schauen. Diese faszinierende Selbstreflexivität des Schauens, findet ihr Pendant in der Selbstreflexivität des Malens von Karl H.. Indem er nämlich das Schauen ins Zentrum seines Bildes setzt, reflektiert er die Grundbedingung des Malens selbst. Er lässt das dem Malen zugrundeliegende Schauen durch sein Malen in Erscheinung treten.
Alice Schopp

