Streuobstwiesen auf dem Hödinger Berg

Nachdem ich den verzauberten Spetzgarter Tobel hinter mir gelassen habe, führt mich mein Wanderweg vorbei am Schloss Spetzgart, in dem ein Teil des Internats „Salem College“ untergebracht ist. Schon bald zweigt links ein von Bäumen gesäumtes schmales Sträßchen ab, das mitten in eine weite mit vereinzelten Obstbäumen bestandene Wildwiese mit unzähligen blühenden und bereits verblühten Wildblumen einen Hügel hinauf führt. Ein ohrenbetäubendes Konzert von zirpenden Grillen vermischt sich mit unterschiedlichen Vogelstimmen. Schon lange nicht mehr habe ich eine solche Stimmenvielfalt gehört. In letzter Zeit wird so häufig vom fortschreitenden Artensterben gesprochen und der Folge dieser Entwicklung für die Vielfalt der Naturgeräusche. Immer mehr Instrumente fielen weg im Konzert der Natur, heißt es. Ich wundere mich, dass hier am Bodensee die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Bald passiere ich ein großes grell leuchtendes Rapsfeld, das in Kombination mit den dahinter liegenden grünen Baumwiesenflächen, dem himmelblau spiegelnden Bodensee und dem weißgipfeligen Alpenpanorama in der Ferne ein malerisches Fotomotiv abgibt. Der Weg führt immer noch weiter hinauf. Ganz oben auf dem höchsten Punkt sehe ich eine Bank. Von dort muss man einen atemberaubenden Blick haben, stelle ich mir vor. Auf diese Bank werde ich mich setzen und einmal eine Weile innehalten und die Landschaft auf mich wirken lassen.

Blick vom Hödinger Berg auf den Bodensee

Fast habe ich die Bank schon erreicht, als mir eine junge Frau mit Kinderwagen von oben entgegen kommt. Sie steuert genau meine Bank an und setzt sich darauf. Sie beugt sich in den Kinderwagen und reicht ihrem etwa einjährigen Kind, das darin sitzt, ein Getränk in einem Schnullerfläschchen. Ich gehe an den beiden vorbei und grüße die Mutter. Das Kleine schaut mich neugierig mit großen Augen an. Ich hebe meine Hand zu einem kleinen Winken und sage: „Na, du?“ Die Mutter meint entschuldigend: „Die Kleine kann noch nicht sprechen.“ „Ja klar“ pflichte ich ihr bei und setze meinen Weg fort. Kurz darauf erhebt sich die junge Frau und geht weiter den Berg hinab mit ihrer Kleinen im Kinderwagen, die schon groß schauen kann aber noch nicht sprechen.

Mutter mit Kind auf dem Hödinger Berg

Ich mache kehrt und nehme nun doch Platz auf der Bank mit der großartigen Aussicht. Es fällt mir nicht leicht, einmal nur dazusitzen und nichts zu tun. Ich versuche es eine Weile bis ich von weiter unten ein Paar heraufkommen sehe. Ich möchte jetzt niemandem mehr begegnen und erhebe mich deshalb und wandere weiter. Schon bald erreiche ich den Ort Hödingen, der mit einer großen Infotafel für seine einmalig schönen Streuobstwiesen am Hödinger Berg wirbt und um Spenden zur Unterstützung dieses Biotopprojektes bittet. Ich lese mir die interessanten Informationen durch und bin begeistert von der Initiative. Jetzt weiß ich, warum mir das Naturkonzert hier so vielstimmig vorgekommen war.

Infotafel zu den Streuobswiesen am Bodensee

Von Hödingen aus wähle ich einen Weg, der mich auf kürzestem Wege wieder nach Überlingen zurückbringen wird. Der Wandervorschlag sieht eigentlich vor, noch bis Sipplingen weiterzugehen. Ich bin allerdings schon eineinhalb Stunden unterwegs und der Rückweg wird sicherlich auch noch einmal eine Stunde dauern. Ich will es nicht zu spät werden lassen. Während ich noch die Wegweiser am Wegesrand studiere, holt mich das Paar von eben ein. Die Dame fragt mich, ob sie mir helfen könne. Nein, nein, vielen Dank. Die beiden steigen in ihr Auto, das sie am Rand von Hödingen geparkt haben. Ich schreite die Straße in Richtung Goldbach hinab. Vor mir liegt der Bodensee, über mir kreisen Raubvögel, in mir tönt das lautstarke Konzert der Grillen und Singvögel. Wieder lockt eine Bank am Wegesrand, mich in die Idylle zu setzen und ein Teil von ihr zu werden. Soll ich es noch einmal versuchen? Gerade erst setze ich mich, als ich laut dröhnende Autoradiomusik näher kommen höre. Ein Wagen mit weit geöffneten Fenstern biegt um die Ecke und hält unmittelbar neben meiner Bank in einer kleinen Haltebucht. Darf das denn wahr sein? Ein punkig wirkendes junges Paar steigt aus. Den Motor und damit auch die Musik haben sie abgestellt. Wollen sich die beiden etwa ausgerechnet auf meine Bank setzen? Sie kommen auf mich zu und sagen „Hallo“. Dann meinen sie zu mir, ob es nicht wunderschön sei hier. Dieser Ausblick! Ich ergänze: „Und dieses Konzert.“ Damit können sie zunächst nichts anfangen. Doch dann sagt die junge Frau: „Ach ja, die Grillen und die Vögel!“ Ich erhebe mich von meiner Bank und verabschiede mich. Als ich mich später umdrehe, sehe ich, dass die beiden jetzt die Bank eingenommen haben.

Blick auf Goldbach am Bodensee

Nach kurzer Zeit quere ich wieder die B 31 und gelange dann in den Ort Goldbach. Bei diesem Ortsnamen muss ich immer an die berühmte Goldbachsche Vermutung denken. Es handelt sich dabei um eines der großen ungelösten Probleme der Mathematik. Die Goldbachsche Vermutung lautet: „Jede gerade Zahl, die größer ist als 2, ist Summe zweier Primzahlen.“ Das hört sich schön einfach an. Doch hat noch niemand bisher den Beweis führen können. Goldbach liegt unten am Bodensee und von hier aus laufe ich noch zwei Kilometer an der Uferstraße entlang, vorbei an den noch unfertigen Gartenflächen für die Landesgartenschau 2020, bis ich die Überlinger Innenstadt wieder erreiche. Daheim angekommen finde ich unseren Seebalkon noch von der Abendsonne schön wärmend beschienen vor. Hier endlich kann ich mich ungestört hinsetzen und mit Johannes den idyllischen Ausblick genießen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.