Johannes fühlt sich immer noch sehr matt und angeschlagen und will den Nachmittag lieber in der Ferienwohnung verbringen. Mich lockt das schöne Wetter hinaus. Ich suche mir aus dem Heftchen mit Wandervorschlägen, das wir im Touristenbüro von Überlingen bekommen haben, die Wanderung durch den Spetzgarter Tobel aus. Wir sind diesen Weg einmal vor Jahren geführt gegangen. Ich weiß noch, wie sehr er mich fasziniert hatte. Die uralte Geschichte der Entstehung der geheimnisvollen Schlucht hatte mich berührt. Ich freue mich darauf, dort noch einmal entlang zu wandern. Ganz alleine. Ich erinnere mich noch, wie weit wir damals erst aus der Stadt Überlingen hinaufsteigen mussten, um zum Ausgangspunkt der Wanderung zu gelangen. Aber das schreckt mich nicht. Ich freue mich auf die Anstrengung.
Ich starte um halb vier und folge genau den Anweisungen der Wegbeschreibung. Bis zum Kurpark geht es zunächst an der Promenade entlang. Ich durchquere den Park und betrete auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Stadtgarten. Schon bald sehe ich die imposante Kakteenfreianlage. Dahinter soll es auf der sogenannten Teufelstreppe steil bergauf gehen. Nur leider ist der gesamte Kakteenbereich weiträumig abgesperrt. Es wird gerade ein riesiger Kaktus dort eingepflanzt. Sechs Gärtner sind dafür erforderlich. Zwei Männer tragen den Wurzelballen, zwei andere Helfer halten an ihren beiden Enden eine Noppenfolienbahn, in die die etwa drei Meter hohe Pflanze schräg hineingelegt ist. Beim Einsetzen ins Beet, wo schon diverse andere Kakteen vergleichbarer Größe stehen, sind insgesamt sechs Personen vonnöten. Ich dokumentiere diese beeindruckende Szenerie mit meiner Handykamera, um später meine Schwiegertochter, eine leidenschaftliche Kakteenliebhaberin, damit zu beglücken.
Ich umwandere das Sperrgebiet und finde einen Weg, der bergauf aus dem Stadtgarten heraus führt. Die Stelle, an der ich den Stadtgarten verlasse, ist vermutlich nicht genau die, die in meiner Wegbeschreibung bezeichnet ist. Deshalb bin ich auch ein wenig ratlos, wie es nun weitergehen soll. Ich wähle die Straße, die weiter bergauf führt. Etwa fünf Minuten lang steige ich immer weiter hoch bis die Straße sich als Sackgasse entpuppt, die am Eingang eines größeren Gebäudekomplexes endet. Soll ich etwa die ganze Straße bis zum Stadtgarten wieder hinab gehen? Ein Herr mittleren Alters von südländischem Aussehen kommt mir entgegen. Ich frage ihn, ob er wisse, wie ich zum P&R-Parkplatz am Krankenhaus kommen könne. Der Herr kennt sich aus. Ich müsse das Gelände der Kurklinik, dort nämlich war ich gerade gestrandet, auf einem Fußweg umrunden. Er zeigt mir, wo der Fußweg abgeht von der Straße. Doch dann besinnt er sich eines Bessern und schlägt mir vor, mich mitzunehmen durch das Gebäude der Klinik. Er sei dort bereits seit drei Wochen Kurgast. Heute sei sein letzter Tag. Damit könne ich ein großes Stück Weges abkürzen. Ich nehme sein Angebot gerne an. Ich versuche vorsichtig, ein Gespräch über seinen Kuraufenthalt mit ihm anzufangen. Ich frage ihn, ob er sich denn gut erholt habe in den drei Wochen. Er sei zum Fasten hergekommen, erwidert er. Ich frage, ob er drei Wochen lang gar nichts gegessen hätte. Er habe nur Gemüsebrühe und Getränke zu sich genommen, antwortet er. Oh, das höre sich sehr schwierig an, meine ich dazu. Das sei aber gar nicht so schwierig. Man bekomme ja zu Beginn Glaubersalz verabreicht. Das spüle den Magen-Darm-Trakt vollständig aus, so dass in der Folgezeit überhaupt kein Hungergefühl aufkomme. Ich wage nicht zu fragen, warum er denn faste. Er scheint mir eine tadellose Figur zu besitzen. Schade, dass ich nicht gefragt habe. Das lässt sich nun nicht mehr nachholen.
Der Herr führt mich durch die Kurklinik hindurch bis zu einer Straße, von der aus der Weg zu dem Parkplatz leicht zu finden ist. Ich bedanke mich herzlich und setze meinen Marsch fort. Am Parkplatz angekommen sehe ich auch schon die Brücke, auf der ich die B 31 überqueren soll, bevor es links in den Spetzgarter Weg hineingeht.Hier beginnt die eigentliche Wanderung. Schon nach wenigen Schritten hört man nichts mehr von der Straße. Eine weite frühlinghaft blühende Landschaft öffnet sich dem Blick. Über Wildwiesen und vereinzelte Bäume hinweg sehe ich rechts oben auf einem Hügel den Ort Aufkirch liegen. Ich erkenne ihn an dem markanten Staffelgiebel seiner über 1000 Jahre alten Kirche. Wenn ich mich umschaue, kann ich weit unten einen Ausschnitt des Bodensees erblicken.
Nach einem Kilometer etwa erreiche ich den Wald. Hier beginnt, so mein Wanderführer, der berühmte wildromantische Spetzgarter Tobel mit seinen steilen Molassefelsen. Auf einer Infotafel lese ich: „Der Spetzgarter Tobel entstand nach der Würmeiszeit, die vor etwa 15.000 Jahren zu Ende ging. Da die steile, bis zu 65 Meter tiefe Schlucht schwer zugänglich ist, blieb sie weitestgehend in ihrem naturnahen Zustand erhalten. Das feucht-kühle Lokalklima des bereits 1930 unter Schutz gestellten Tobels ist inzwischen zu einem bedeutenden Rückzugsgebiet für eine Reihe seltener nordisch-alpiner Pflanzen geworden.“ Später lese ich bei Wikipedia nach, dass besonderer Schutz dem Orchideen-Buchenwald, dem Bacheschenwald sowie dem Vorkommen alpiner Pflanzenarten gilt.
Ich trete ein in das spannende Naturschutzgebiet. Links vom Weg klafft die tiefe Schlucht. Ganz unten hört man den Tobelbach rauschen. Zu sehen ist er aufgrund der ungeheuren Tiefe des steilen Tales nicht. Rechts erhebt sich schon bald die hoch aufragende schneeweiße Molassewand. Danach führt der Weg hinab zu einer Holzbrücke, auf der man den tiefen Abgrund überqueren kann. Von hier aus kann man endlich den Tobelbach erblicken, den tief unten langsam in seinem Bach entlangplätschert. Auf der anderen Seite führen steinerne Stufen wieder hinauf. Eine Weile noch geht es weiter durch den schattigen Wald mit seinen unzähligen Vogelstimmen und schon sehe ich enttäuscht einen Waldparkplatz und im Hintergrund ein paar Häuser. Gerne hätte ich mich noch länger im Zauber der dunklen Schlucht aus uralten Zeiten bewegt.
Fortsetzung folgt.