Johannes geht es noch nicht wirklich gut. Wir wollen nach dem Frühstück nur ein wenig am Seeufer entlang spazieren und uns dann irgendwo zum Lesen auf eine Bank in die Sonne setzen. Der Himmel ist heute fast wolkenlos. Allerdings ist es immer noch sehr kalt. Das Thermometer auf unserem Balkon zeigt 8° C. Wir ziehen uns warm an mit Mütze, Schal und dem dicken gefütterten Winteranorak. Unsere Romane (Die einzige Geschichte von Julian Barnes und Benzin von Gunther Geltinger) stecke ich in meinen Lederrucksack. Das Café Veneto unten in unserem Haus hat heute nicht seine großen hellgelben Sonnenschirme aufgespannt. Die Menschen bevorzugen nach den winterlich kalten Tagen den Sonnenschein. Wir wenden uns nach links und gehen in Richtung des Überlinger Hafens. In der Ferne vor der beschneiten Alpenkulisse sehen wir einen Zeppelin über den See fahren.
Wir gehen um das Hafenbecken herum und setzen unseren Spaziergang auf der anderen Seite am Ufer entlang fort. Vorbei an der malerisch gewachsenen solitär stehenden Trauerweide, die ich schon unzählige Male fotografiert habe und auch diesmal wieder in die Kamera bannen muss, führt der Weg weiter zwischen dem befestigten Seeufer und einem historisch anmutenden Minigolfplatz. Schließlich endet der Fußgängerweg und wir setzen unseren Spaziergang auf der Seestraße fort. Nach einem halben Kilometer etwa treffen wir auf eine kleine halbrunde Parkanlage mit Bänken, die auf den See schauen. Wir nehmen auf einer der in der Sonne liegenden Bänke Platz.
Kaum sitzen wir dort, erscheint eine fröhliche Gruppe etwa zehnjähriger Kinder in Begleitung ihrer Lehrerin. Die Schar begibt sich genau vor unseren Augen den kleinen Abhang zum Seeufer hinab. Die Kinder tragen mehrere selbstgebastelte Bötchen mit sich, die sie mit Alufolie verkleidet haben. Die Lehrerin schart die Gruppe um sich und gibt klare Anweisungen. Es sei ihr ganz wichtig, dass kein Kind ins Wasser falle. Sie sollten sich also vorsehen am Rand des Wassers. „Setzt die Boote gleich ins Wasser und beobachtet erst einmal, in welche Richtung sie getrieben werden. Dann beladet ihr sie mit Steinen. Nehmt besser mehrere kleine Steine als einen großen. Und haltet alles gut fest in euren Protokollen. Macht auch Fotos.“ Die Kinder hören sehr aufmerksam zu. Ein Mädchen stellt eine Frage: „Und was ist, wenn eine Ente unser Boot kaputt macht?“ „Das machen die für gewöhnlich nicht“ lautet die lakonische Antwort der versierten Pädagogin. Es werden keine weiteren Fragen gestellt.
Gespannt beobachten wir das Geschehen. Worum mag es denn bei diesem Experiment gehen? Und was ist das überhaupt für eine Schülergruppe? Für eine Schulklasse ist die Gruppe viel zu klein. Ich zähle kurz, wie viele Kinder es sind. Ich zähle 13. Auf der Parkbank neben uns hat ein älteres Paar Platz genommen. Auch die beiden beobachten die Kinder mit Interesse. Ich beschließe, zu den Kindern hinunter zu gehen und herauszufinden, was dort der Fall ist. Als ich mich den eifrig forschenden Wesen nähere, erkenne ich, dass sie die Steine, die sie später in ihr Boot legen werden, immer vorher auf einer digitalen Küchenwaage wiegen, die in einer schützenden blauen Plastikdose auf den Uferkieseln aufgestellt ist. Als ein Junge mit einem riesigen Stein an die Waage herantritt, warnt die Lehrerin: „Die Waage kann nur maximal 5 kg anzeigen.“ Ein anderer will gleich mehrere Steine gleichzeitig wiegen. Aber das scheint nicht der Sinn der Sache zu sein. Seine Lehrerin fordert ihn auf, die Steine einzeln zu wiegen und jedes einzelne Gewicht zu notieren.
Ich lasse mir von der Lehrerin erklären, was die Kinder dort machen. Es gehe darum, die Tragkraft der selbstgebauten Boote zu testen. Ich frage, ob es sich um einen Ausflug des Physikunterrichts handele. Nein, antwortet sie. Das Unterrichtsfach heiße BNT, was für Biologie, Naturphänomene und Technik stehe. Ein neues Fach für die 5. und 6. Klassen. Eines der Mädchen schreibt gerade an ihrem Protokoll. In vollständigen Sätzen hält sie fest, welche Steine ihre Kleingruppe bisher gewogen hat, wie schwer sie waren und wie sich das Boot beim Beladen verhalten hat. Die Lehrerin gibt ihr einen Tipp zum Abkürzen des Protokolls. Sie solle einfach schreiben „Stein 1: dann das Gewicht, Stein 2: u.s.w.“ Ich frage das Mädchen, ob ich ein Foto von ihrem Protokoll machen dürfe. Sie wendet ein, dass sie das ja nicht ganz richtig gemacht habe bisher. Ich versichere ihr, dass ich nicht ihren Namen dazusetzen werde und auch kein Foto von ihr. Daraufhin ist sie einverstanden.
Ich bedanke mich für die Auskünfte und begebe mich wieder zu meiner Bank. Das ältere Paar auf der Nachbarbank lässt sich von mir berichten, was ich in Erfahrung gebracht habe. Ich erwähne, dass ich früher auch Lehrerin gewesen sei, woraufhin die beiden sich ebenfalls als ehemalige Lehrer outen. Die Dame winkt zwar ab, das sei doch alles schon so schrecklich lange her, ihr Mann aber erzählt gerne von seiner Lehrerzeit. Er habe das Fach Biologie unterrichtet. Er sei aber ein sehr spezieller Biologe gewesen. Er habe an der berufsbildenden Schule die zukünftigen Biotechniker unterrichtet. Dann weist er auf seine Frau und erzählt stolz, dass ihr Fach die Handarbeit gewesen sei oder Textilgestaltung, wie es ja heißen müsse. Die Dame aber will gar nichts mehr davon wissen. Ich frage sie, ob sie denn gerne unterrichtet hätte. Es käme darauf an, meint sie dazu. Das Unterrichten sei ja mit der Zeit immer schwieriger geworden. Den Eindruck haben wir allerdings von der Outdoor-Unterrichtsstunde unserer kleinen BNT-ler nicht.
Ich setze mich wieder zu Johannes und beobachte weiter die fleißigen Forscher bei ihrer Arbeit. Ein erstes Boot beginnt, sich mit Wasser zu füllen. Vier Jungs fischen es schnell aus dem See heraus und wischen es mit einem Tuch trocken. Plötzlich kommt ein Wellengang auf und auch die anderen Boote werden kurzfristig aus dem Wasser gehoben. Schließlich erklärt die Lehrerin, dass die erste Gruppe fertig sei. Sie schickt die Kinder mit ihrem Boot oben auf die Bank neben uns. Das ältere Paar hat die Bank inzwischen verlassen und ist weitergewandert.
Ich gehe zu den Kindern auf der Bank hinüber und frage sie, ob ich sie interviewen dürfe. Sie reagieren ein wenig scheu, sind aber gerne bereit, meine Fragen zu beantworten. Ich erfahre, dass die Kinder in die fünfte Klasse des Gymnasiums Überlingen gehen und dass es sich nur um die halbe Klasse handelt. Die andere Hälfte habe momentan MB-Unterricht, was Medienbildung bedeute. Von Woche zu Woche werde abgewechselt zwischen MB und BNT. Ich lasse mir auch erklären, wie sie das angestellt hätten, die maximale Tragkraft ihres Bootes herauszufinden. Sie hätten immer mehr Steine in das Boot hineingelegt bis schließlich das Boot angefangen hätte zu sinken. Dann hätten sie das Gewicht des letzten Steins wieder subtrahiert von ihrer bisherigen Summe.
Ich erzähle ihnen von meinem Blog und dass ich vielleicht über ihren Schulausflug berichten werde. Die Kinder sind begeistert davon und wollen sich gerne von mir fotografiert lassen, damit sie „berühmt“ werden. Inzwischen ist die Lehrerin hinzugetreten. Ich erkläre, dass ich natürlich kein Foto veröffentlichen werde, auf denen ein Kind zu erkennen sei. Die Lehrerin meint zu den Kindern, dass sie durch diesen Unterrichtsausflug sowieso nicht berühmt werden könnten. Ich aber widerspreche und erkläre, dass ich dieses Forschungsprojekt am Bodensee sehr wohl für berühmt und für sehr besonders halte. Die Kinder freuen sich. Alle sind einverstanden damit, dass ich über ihren Ausflug im Internet berichte. Die Lehrerin versammelt schließlich wieder die ganze Schar um sich und die fröhliche Gruppe zieht ab in Richtung Gymnasium Überlingen.
Gerne hätte ich mehr über die Kinder erfahren. Auf dem Foto sehe ich zwei Mädchen. Waren die Mädchen vielleicht in der Überzahl? Das wäre erstaunlich, aber vielleicht nur für Angehörige meiner Generation.
Ich erinnere mich an meine Schulzeit und ähnliche pädagogische Bemühungen, die ebenfalls gut durchdacht und ebenso gut beabsichtigt auf mich angewendet wurden. Leider ohne in mir eine Resonanz erzeugt zu haben. Es war wohl die Trägheit meines Geistes, zumindest dessen naturwissenschaftlichen Kompartiments, die mich gegen fast alles abstumpfte, was Maß, Zahl und Gewicht zum Inhalt hatte.
Was mich nicht hinderte ein mäßiges Abitur hinzulegen, um dann in jugendlicher Selbstüberschätzung und „nur mal so“ Medizin studieren zu wollen. Doch davor hatten die Götter den Schweiß gesetzt, und die Dämonen der Schulzeit feierten eine hämische Wiederkehr. Heißt doch die gefürchtete Zwischenprüfung nicht ohne Grund Physikum und bekundet somit, dass es nicht um Geistheilungen geht.
Ich hab’s bestanden. Knapp, mit viel Glück, Mitleid und gutem Willen der Prüfer. Wie’s dann weiterging, davon vielleicht bei Gelegenheit mehr.
Lieber Robert, wir sind gespannt auf die Fortsetzungsgeschichte!
Einmal Lehrerin, immer Lehrerin.😉