
Für den Nachmittag unseres ersten Urlaubstages habe ich schon von zu Hause aus Konzertkarten besorgt. In der Basilika Birnau, der berühmten Barockkirche am Nordufer des Bodensees, wird die Marienvesper von Claudio Monteverdi aufgeführt. Dieses großartige Chorwerk aus der Zeit des Übergangs von der Renaissance zum Barock habe ich bereits zweimal selbst gesungen mit dem Kirchenchor Bensberg und weiß deshalb, welche himmlischen Freuden mich erwarten. Die Aufführung beginnt um 17:00 Uhr. Um 16:00 Uhr kann man sich schon in das Konzert einführen lassen. Dieses Angebot lassen wir uns nicht entgehen. Von Überlingen aus fährt man nur etwa 10 Minuten bis sich von der B 31 aus gesehen plötzlich die barocke Klosterkirche der Zisterzienser malerisch von der schimmernden weiten Wasserfläche des Bodensees abhebt.
Wir betreten die Basilika ohne unser Ticket vorzeigen zu müssen. Der prächtig mit barocken Figuren und Wandgemälden geschmückte Kirchenraum ist belebt mit unzähligen Menschen, die entweder in den Bänken sitzen oder besichtigend herumwandeln. Wir nehmen schon unsere reservierten Plätze ein. Um 10 Minuten vor vier tritt ein Kirchendiener ans Mikrofon und bittet alle Besucher ohne Konzertticket sowie die Konzertbesucher, die an einer Einführung in das Konzert nicht interessiert sind, die Kirche jetzt zu verlassen. Alle anderen mögen jetzt bitte ihre Plätze einnehmen.

Zehn Minuten später erscheint Thomas Gropper, der musikalische Leiter der Aufführung, am Mikrophon und stellt uns mit viel Temperament und großer Leidenschaft den Komponisten und seine großartige Komposition vor. Man solle sich einmal vor Augen halten, wie alt diese Musik schon ist. Über 100 Jahre vor Bach habe Monteverdi gelebt. Vor 409 Jahren sei die Marienvesper veröffentlicht worden. Ob Monteverdi diese Musik wirklich so haben wollte, wie wir sie heute zu hören bekommen, wisse man nicht. Möglicherweise handele es sich um eine freie Zusammenstellung von Psalmvertonungen und solistischen Motetten zur Bewerbung in Rom, die nicht den Charakter eines geschlossenen Opus beanspruchte. Den letzten Satz habe Monteverdi zudem in zwei Fassungen hinterlassen. Die eine Fassung verzichte auf den instrumentalen Reichtum der Vertonung und sehe nur sechs Stimmen und ein basso contunuo vor. Ob das die letztgültige Version sei oder nur eine Vorform, wisse man nicht. Es gebe noch viele weitere unbeantwortete Fragen im Zusammenhang mit der Aufführung dieses Sakralwerkes. So würden die Psalmvertonungen im Wechsel von Chor und Solisten vorgetragen. Aber auch das stehe nicht genau in den Noten. Auch die Instrumentierung sei Sache des Interpreten, die Besetzungsfrage, die sog. Registrierung. Es komme dabei auf den Aufführungsraum an, auf die Größe des Chores und andere Rahmenbedingungen. Erschwerend komme hinzu, dass es die historischen Instrumente teilweise gar nicht mehr gebe heute. Während ich all diese Schwierigkeiten und Freiheiten auf Seiten des Interpreten vernehme, wächst zusehends meine Hochachtung für meinen eigenen Chorleiter, Ludwig Goßner, der zweimal höchst gelungene Versionen der Marienvesper in unterschiedlichen Kirchen zur Aufführung gebracht hat.
Thomas Gropper lobt seinen Chor, die seit 1966 bestehende Birnauer Kantorei, mit dem er nun schon in sein fünftes Jahr gehe, in höchsten Tönen. Er wisse, was er seinen Sängern und Sängerinnen da abverlange mit diesem schwierigen Werk und er müsse sagen, dass die Probenarbeit seinen Chor zu höchster gesanglicher Qualität geführt habe. Auch über die Solisten (Monika Mauch, (Sopran 1), Verena Gropper (Sopran 2), Robert Sellier (Tenor 1), Christian Rathgeber (Tenor 2), Andreas Burkhart (Bariton) und die stilkundlich versierten Instrumentalisten des Barockorchesters „L‘arpa festante“ äußert er sich zuhöchst anerkennend.
Die Vorstellung des Komponisten Claudio Monteverdi gerät Gropper ebenso unterhaltsam und lebendig wie sein bisheriger Vortrag. So lässt er z.B. mit seiner vollen Baritonstimme den Anfang von Verdis „La Donna È Mobile“ erklingen und erklärt uns, dass Monteverdi genau bei diesem Herzog von Mantua, dessen Hof der Schauplatz der Oper Rigoletto ist, über 20 Jahre lang als Musiker gewirkt hat. Er singt uns auch die Melodie der Eröffnungsfanfaren von Monteverdis Oper L’Orpheo vor, um darauf hinzuweisen, dass die Marienvesper mit ebendiesen Fanfarenklängen ihre Zuhörer begrüßt. Ein Umstand in Monteverdis erfolgreichem Musikerleben hat mich besonders berührt. Nach dem Tod des Herzogs Vincenzo im Jahr 1612 wurde Monteverdi nach 22 erfolgreichen Musikerjahren am Hofe von Mantua von dessen Nachfolger entlassen. Der neue Herzog von Mantua hatte wenig übrig für Musik und außerdem war das Herzogtum pleite. So stand Monteverdi, einer der berühmtesten Komponisten und Musiker seiner Zeit, mit 45 Jahren plötzlich auf der Straße. Ein Jahr später holte man ihn allerdings zurück und er wurde Kapellmeister des Markusdoms von Venedig, wo seine angenehmste und produktivste Zeit begann. Mit 76 Jahren starb Monteverdi.
Nach der Einführung dauert es noch eine halbe Stunde bis die Aufführung beginnt. Die mit Zusatzstühlen verlängerten Bankreihen füllen sich zusehends bis auf den letzten Platz. Dann beginnen die Instrumentalisten mit dem Stimmen ihrer historischen Instrumente. Schließlich marschieren die Sängerinnen und Sänger der Birnauer Kantorei auf ihr vielstufiges Podest, das den Chorraum der Basilika in seiner ganzen Breite ausfüllt. Es wird nicht applaudiert, eine Zurückhaltung, die der Andacht des Kirchenraumes geschuldet ist. Zuletzt nehmen die Solisten Aufstellung. Ein Kirchenvertreter begrüßt die Zuhörerschaft und kündigt an, dass im Anschluss an die Aufführung die Kirchenglocken der Birnau zu hören sein werden. Er bittet darum, erst nach dem Verklingen der Glocken zu applaudieren.

Dann erscheint Professor Gropper, der Chor erhebt sich von seinen Sitzbänken und die Musik setzt ein. Wie ein Hammer trifft mich die vielgestaltige Klangfülle. Tränen rinnen mir über die Wangen. Wie ist so etwas Berührendes nur möglich?

Klasse. Ein gern gelesener Beitrag den du veröffentlicht hast.
Es ist garnicht leicht darüber im www was zu recherchieren.Und schon was
dazu gelernt!