Wie schon so oft machen wir wieder einmal Urlaub am Bodensee. Beim letzten Mal, das war im Herbst 2017, sind wir allerdings nach einem Tag schon enttäuscht wieder abgereist. Beim Mittagsmahl auf unserem attraktiven Balkon an der Seepromenade von Überlingen ragte mit ohrenbetäubendem Lärm plötzlich eine riesige Baggerschaufel unmittelbar vor unseren Augen auf. Wie wir von unserer Vermieterin erfuhren, hatten wohl die Bauarbeiten zur Umgestaltung der Promenade für die Landesgartenschau 2020 unerwartet früh begonnen. Sie war einverstanden damit, uns den Mietpreis zurück zu erstatten. Wir sind dann weitergereist nach Oberstdorf und haben dort auch ohne Seeblick einen schönen Urlaub verbracht.
Diesmal aber wollten wir ihn wieder genießen, diesen faszinierenden Blick auf die weite schimmernde Wasserfläche. Wir haben uns vorsorglich vergewissert, dass die Promenadenarbeiten auch restlos abgeschlossen sind. Und tatsächlich finden wir bei unserer Ankunft eine prächtig gestaltete neu gepflasterte und üppig mit Frühlingsflor bepflanzte Seepromenade vor. Ungehindert schauen wir von unserem Wohnraum aus durch die bodentiefe Verglasung auf den See. Der alte Baumbestand, der die Sicht ein wenig eingeschränkt hatte, ist den Umgestaltungsmaßnahmen zum Opfer gefallen. Widersinnig kommt uns das vor, für eine Gartenschau die schön gewachsenen alten Bäume zu entfernen. Wir sehen jetzt nur noch See. Kein einziges grünes Blatt ragt uns in das Bild hinein.
Es ist sehr kalt für Anfang Mai. Der Himmel ist bedeckt. Die Wetterprognose für die nächsten Tage macht uns keine Hoffnung auf eine grundlegende Besserung. Johannes ist zudem schwer erkältet. Zu Hause hat er in der vergangenen Woche noch mit hohem Fieber im Bett gelegen. Beinahe hätten wir gestern gar nicht abreisen können. Wir wollen es langsam angehen lassen für heute und nur ein wenig am Ufer entlang spazieren, um uns die Veränderungen für das Gartenbauevent im nächsten Jahr anzuschauen.
Ich trete auf den Balkon hinaus, um die Temperatur einzuschätzen. Das Café unter uns hat bereits seine großen Sonnenschirme aufgespannt. Ein sehr groß gewachsener älterer Herr lehnt an der Uferbrüstung und telefoniert lauthals. Er schildert sein Problem, passende Walkingstöcke für sich zu finden. Weltweit seien oben gebogene Stöcke in 1,20 m Länge nicht mehr zu bekommen. Für seine Psyche brauche er diese. Nur mit ihnen könne er richtig aufrecht gehen. Das Problem mit seinen Füßen habe er jetzt gut im Griff. Er reibe sie jetzt immer mit Pferdebalsam ein. Sie täten gar nicht mehr weh. Dann verabschiedet er sich mit den Worten: „Dann wollen wir mal den Lebensendspurt antreten.“ Dieser Satz hält mich gefangen. Ein Endspurt. Den letzten Abschnitt des Lebens als einen Endspurt bezeichnen. Das gefällt mir irgendwie und scheint mir andererseits irgendwie widersinnig zu sein. Ein Endspurt ist eine beschleunigte Bewegung, eine Verdichtung und Intensivierung für einen kurzen Zeitabschnitt. Die Vorstellung gefällt mir, den letzten Lebensabschnitt als eine intensive Zeit beschleunigten und verdichteten Erlebens anzusehen. Eins stört nur an dieser Vorstellung. Wohin spurtet man denn da? Das Ziel dieses Endspurts ist unangenehmerweise der Tod. Ihn will ich nicht beschleunigt erreichen. Oder geht es beim Endspurt gar nicht um das schnellere Erreichen des Ziels. Geht es nur darum, noch einmal alle Kraft und Energie aufzuwenden, noch einmal die volle Potenz zu entfalten? Als Selbstzweck. Und als Selbststeigerung. So gesehen ist es vielleicht doch nicht widersinnig, den letzten Lebensabschnitt als einen Endspurt anzusehen. Aber was heißt schon „letzter Lebensabschnitt“? Manch einer fängt schon mit 70 an, davon zu sprechen. Und dann folgen doch noch zahllose Abschnitte, jeder überschattet von der Vorstellung, der letzte zu sein.
Liebe Alice,
du hast wieder so kurzweilig geschrieben, dass es mir geradezu vorkommt, als sei ich mit euch unterwegs.
Ich liebe detaillierte, authentische Reiseberichte.
Ausserdem ein sehr schönes Blumenbild!
L G Ute