Wieder beginnt der Tag mit demselben makellos blauen Himmel wie gestern und wie vorgestern. Fast bin ich in Versuchung mit Juli Zeh zu fragen, ob einem das gute Wetter nicht irgendwann einmal auf die Nerven gehen kann. Aber das wäre wirklich undankbar. Der heutige Tag ist unser letzter Urlaubstag. Wir wünschen uns noch ein besonderes Erlebnis zum Abschluss. Wieder einmal suchen wir die Touristeninformation von Hopfen auf und lassen uns beraten. Zuerst klären wir zwei Fragen, die uns seit Tagen auf den Nägeln brennen. Was ist das für ein Bähnchen, das man den ganzen Tag weithin tuten hört? Und: Kann man auf dem zugefrorenen Hopfensee laufen oder sollte man das besser nicht tun? Zur ersten Frage heißt es, das Bähnchen sei keine besondere Touristenattraktion, sondern einfach nur die einmal stündlich in jede Richtung fahrende Bahnverbindung von Füssen mit Marktoberdorf. Zur zweiten Frage hören wir das äußerst empörte Urteil über die Personen, die es einfach wagen, das Eis zu betreten. Das sei nicht nur leichtsinnig, sondern überaus unverantwortlich. Man sehe doch, dass die Eisfläche an einigen Stellen noch ganz offen sei. Der Winter sei in diesem Jahr überhaupt nicht kalt genug gewesen, den See zuverlässig zuzufrieren. Überhaupt, sei der Hopfensee noch nie ganz zugefroren gewesen. Nun kommen wir zu unserem aktuellen Anliegen.
Nach all den Wanderwegen nahe Hopfen könnten wir uns für heute vorstellen, einmal etwas Besonderes zu unternehmen, nämlich z.B. mit dem Lift auf einen Berg hinauf zu fahren und dann oben in der Höhe mit großartiger Aussicht zu wandern. Unsere Freundin im Touristenbüro schüttelt bedauernd den Kopf. Die Wege droben seien immer nur sehr kurz. Eine richtige Wanderung sei das nie. Aber es gebe da eine Ausnahme. Wenn wir bis Tannheim in Österreich hinüber fahren wollten, da könnten wir oben um das Neunerköpfle eine Höhenwanderung von ein bis eineinhalb Stunden machen. Wir fragen, wie lange man denn bis dorthin fahre und erfahren zu unserer Erleichterung, dass man in etwa 20 Minuten dort ist. Noch eine Sorge bewegt uns. Wie lange steht man denn so an der Bergbahn in Tannheim an? „Sie müssen schon mit Skibetrieb rechnen jetzt. Aber länger als 10 Minuten stehen Sie da nicht an.“ Auch das beruhigt uns und wir entscheiden uns für die Höhenwanderung um’s Neunerköpfle. Der Name mutet uns seltsam an. Er müsste eigentlich „Neunuhrköple“ heißen, wie wir später im Internet nachlesen, weil morgens um 9 Uhr die Sonne von Tannheim aus gesehen über dem Berggipfel erscheint.
Die Autofahrt von Hopfen nach Tannheim führt zuerst über Füssen, dann um den Kalvarienberg herum und weiter an der schwarzen Nordseite des Schwarzenbergs entlang durchs Lechtal bis Vils und weiter an der Vils, einem Zufluss des Lech, entlang bis Pfronten-Steinach. Von hier aus durchfahren wir zunächst das Achtal und anschließend das Engetal bis Gran, von wo aus es nur noch wenige Kilometer sind bis zur Tannheimer Liftstation. Wir passieren auf der Strecke dreimal die deutsch-österreichische Grenze und brauchen insgesamt etwa eine halbe Stunde bis Tannheim. Die Talstation der Seilbahn ist umgeben von großen dicht vollgestellten Parkplätzen. Wir kurven eine ganze Weile herum bis wir einen Platz finden. Das sind die Nachteile, wenn man sich einmal eine touristische Attraktion gönnt. Hoffentlich ist die Warteschlage am Lift nicht allzu lang. Zuerst müssen wir noch ein Parkticket ziehen. An der Ticketsäule angekommen stellen wir fest, dass man nur mit Münzen zahlen kann. Wir müssen noch einmal zum Auto zurückkehren, weil wir nicht genug Münzen bei uns haben. Im Auto liegen immer einige Parkmünzen. 4 Euro zahlen wir für eine Parkzeit von 2 bis 24 Stunden. Endlich sind wir aufbruchbereit und begeben uns an die Kasse der Talstation. Hin- und Rückfahrt kostet pro Person 20 Euro. Allerdings bekommen wir gegen Vorlage unseres Parkscheins 3 Euro zurück und unsere Füssener Gästekarte reduziert den Preis noch einmal.
Zu unserer Freude gibt es überhaupt keine Warteschlange am Lift. Wir gehen einfach durch und steigen in die erste Viererkabine ein, die herangeschwebt kommt. Mit uns steigt eine Österreicherin mit ihrem halbwüchsigen Sohn ein. Die beiden sind Skifahrer. Ihre Skier stecken sie außen an der Kabine in eine Box. Wir genießen den Blick ins Tal mit den immer kleiner werdenden Häusern des Ortes Tannheim. Es sind viele Gleitschirmflieger unterwegs, die von oben herabschweben und auf einem Landeplatz nahe der Talstation wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. Nach einer Viertelstunde etwa kommen wir oben auf dem Neunerköpfle an. Unsere Mitfahrer schnallen sich gleich die Skier unter und gleiten auf die breite spiegelglatte Piste, um sofort in die Tiefe abzufahren. Ich hätte nicht übel Lust, mich jetzt auch diesem rauschhaften Sportvergnügen hinzugeben. Aber wir sind zum Wandern und nicht zum Skifahren hergekommen. Schneewandern ist auch ein herrliches Vergnügen, weniger aufwändig und weniger hektisch.
Wo wir stehen, kreuzen sich zwei unterschiedliche Pisten. Unentwegt saust jemand an uns vorbei. Vor uns, ein wenig unterhalb unserer Position, schauen wir auf die vollbesetzte Gundhütte, wo man es sich bei Bier oder Kaffee im warmen Sonnenschein bei einem 360°-Alpenblick gut gehen lässt. Uns zieht es jetzt erst einmal auf unsere Rundwanderung ums Neunerköpfle. Ein Wegweiser zeigt, wo der Weg startet. Es geht ziemlich steil hinauf und wir finden gar keinen festen Tritt. Ohne Stöcke hat es eigentlich nicht viel Sinn, den Rundweg zu wagen. Ein anderes Paar kommt uns mit Stöcken entgegen und macht uns darauf aufmerksam, dass man an der Liftstation Stöcke kostenlos ausleihen kann. Wir bedanken uns für den wertvollen Hinweis und kehren noch einmal zur Station zurück, wo ein freundlicher Mitarbeiter uns Stöcke in der passenden Länge reicht.
Das Laufen ist jetzt wesentlich einfacher. Nach wenigen Minuten kommen wir an einer Abflugfläche für Gleitschirmflieger vorbei. Ein Mann und eine Frau bereiten gerade ihren Abflug vor. Sie breiten den Schirm hinter sich am Boden aus und sortieren die vielen Seile für die linke und die rechte Hand. Immer wieder schauen sie nach dem Wind aus und warten. Schließlich läuft die Frau los. Ihr leuchtend roter Schirm hebt sich und wölbt sich zu seiner vollen Größe aus. Dann plötzlich kurz vor dem Abgrund stoppt sie ihren Lauf und der Schirm schwebt langsam vor ihr zu Boden. Ihr Kommentar dazu: „Der Wind ist heute ganz schlecht.“ Sie kehrt zu ihrem Partner zurück und die beiden beginnen, ihre Schirme wieder in die Rucksäcke zu packen.
Wir setzen unsere Wanderung fort. Es ist so warm, dass wir die Winterjacken ausziehen und uns um die Hüfte binden. Der Ausblick in die Allgäuer Hochalpen und das Tannheimer Tal ist einfach überwältigend. Außer uns haben noch viele andere Urlauber heute dieses Hochapenerlebnis für sich ausgesucht. Wir begegnen einem Paar mit Baby in der Trage, einem Vater mit zwei Kleinkindern und einem Schlitten, einem älteren Herrn mit einem eleganten schwarzen Hut, einigen Hundebesitzern mit ihrem Hund und vielen anderen mehr. Auf dem Wegeplan unseres Rundweges, den man uns beim Ticketkauf mitgegeben hat, sind für den Wanderer zehn besondere Stationen markiert. Zurzeit befinden wir uns an einem Punkt, von dem es heißt „Stille genießen“. Die nächste Stelle ist mit „s‘ Bergmändle“ bezeichnet, worunter wir uns nichts vorstellen können. Danach heißt es: „Hihocka und luage“. Das verstehen wir. Und wir sehen auch eine ganze Reihe von Hölzbänken mit Ausblick und Sonnenausrichtung. Auf jeder der Bänke sitzt bereits ein Paar. Manche Paare sitzen mitten auf ihrer Bank und haben links und rechts neben sich ihre Taschen oder Rucksäcke abgestellt. Zu ihnen wollen wir uns lieber nicht dazu setzen. Aber ein Paar gibt es, das nur die halbe Bank besetzt. Dort fragen wir freundlich an, ob wir uns dazu setzen dürfen. Sie gestatten es gern.
Hier kann man nun ganz entspannt die Stille genießen, die Stille, und die Wärme und den Ausblick auf ein ganzes Areal kleiner weißer Hochalpengipfel in der Ferne. Was für ein besonderer Anblick. Er erinnert mich wegen seiner gezackten Oberfläche an das schwarzweißgestreifte Gebirge aus Michael Endes „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“, wenn auch die Streifen hier fehlen. Wir versuchen, möglichst nicht zu sprechen, um unseren freundlichen Nachbarn den Genuss der Stille nicht zu verderben. Allerdings wird ringsherum auf den anderen Bänken überall gesprochen. Es ist gar nicht still. Was bedeutet Stille eigentlich, frage ich mich. Steckte man jetzt Ohrstöpsel in die Ohren, so dass man absolut nichts mehr hörte, erlebte man dann Stille? Nein, ein Erlebnis von Stille ist etwas anderes. Ein Stilleerlebnis ist immer verbunden mit einem Bewusstsein, nämlich dem Bewusstsein der Abwesenheit störender Geräuschquellen. Im leeren Raum sein, Raum im Sinne von akustischem Raum. Im akustischen Vakuum sein. So denke ich jetzt. Aber mein Nachbar zu Hause, der uns nach der Rückkehr aus dem Urlaub auf seiner Terrasse mit einem Gartenfeuer in der Feuerschale empfängt, gibt zu bedenken, dass die Vogelstimmen und das Geräusch des Windes zum Stilleerlebnis dazu gehören. Er hat recht. Erhebendes Stilleerlebnis bedeutet nicht Abwesenheit von Geräuschquellen, sondern Verschmolzenheit mit der Natur.
Die nächsten Stationen, an denen wir vorbeikommen, heißen Winterbergwelt, Eichhörnchen, Herz in den Alpen. Es handelt sich bei dem Herz eigentlich um ein Loch, ein über drei Meter hohes herzförmiges Loch in einer Holzwand, durch die man die Landschaft oder vor der man sich selbst fotografieren kann. Uns interessiert aber weniger das Herz, als vielmehr die nächste Station: der Gipfel des Neunerköpfle. Ein großes Kreuz mit Gekreuzigtem krönt den Gipfel, zu dem wir nun hinaufsteigen. Von hier oben blickt man noch großartiger in die umgebende Alpenwelt als bisher. Tief unter uns liegt die Grundhütte mit ihrer immer noch voll besetzten Sonnenterrasse. Neben der Hütte gibt es noch einen zweiten Startplatz für Gleitschirmflieger. Vier Schirme in verschiedenen Farben liegen dort schon ausgefaltet und ihre Piloten stehen in den Startlöchern. Da rennt der erste los und schon schwebt er in der Luft und verschwindet hinter einem Berg. Wenige Minuten später erscheint er auf der anderen Seite des Berges und senkt sich langsam und allmählich dem Landesplatz in Tannheim entgegen. Lange dauert so ein Flug heute nicht wie uns scheint. Es gibt hier am Neunerköpflegipfel das größte Gipfelbuch der gesamten Allgäuer Alpen, wobei es allerdings auch nur aus einer einzigen Seite besteht. Die allerdings ist sehr groß, nämlich etwa 2 m breit und 4 m hoch. Es steht eine Leiter daran, damit man sich auch weiter oben eintragen kann. Wir verewigen uns dort mit dem heutigen Datum (15.2.2019) und einem Hinweis auf meinen Reiseblog.
Wir nähern uns jetzt langsam dem Ende unseres Rundweges. Die letzten beiden Stationen heißen Beste schöne Aussicht und Gemütliche Einkehr. Die Aussicht nehmen wir gerne mit aber auf die Einkehr in der Grundhütte verzichten wir. Lieber kehren wir zurück in unser attraktives Appartement und unsere riesige Sonnenterrasse mit Seeblick.