Unser erster Gang nach dem Erwachen führt uns wie gestern ans Fenster. Dasselbe enttäuschende Bild. Hinter dem Hopfensee kein Alpenpanorama. Dass es weiterhin schneit, stört uns nicht. Der Schnee verzaubert die Landschaft und ist höchst willkommen. Aber ein Ausblick auf die Alpengipfel wäre schön.
Wir wählen für heute wieder einen kürzeren Schneewanderweg mittleren Schwierigkeitsgrades aus unseren Unterlagen aus, nämlich die Hopfen-Faulensee-Runde. Es heißt in der Füssen-Winterklassiker-Broschüre darüber: „Start / Ziel: Haus Hopfensee, Länge: 5,9 km; Höhenmeter auf-/absteigend: 145 hm; Dauer: 1:45 h, Schwierigkeitsgrad: mittel, unterschiedlich präpariert.“
Wieder suchen wir zuerst das Touristenbüro von Hopfen auf und lassen uns darüber aufklären, ob man den Rundweg bei der Wetterlage heute gehen kann. Dieselbe Dame, die uns auch gestern beraten hat, glaubt nicht, dass die Strecke in eindreiviertel Stunden zu bewältigen ist. Das höre sich ziemlich „sportlich“ an. Begehbar müsse der Rundweg eigentlich sein. Alle ausgewiesenen Winterwanderwege würden entweder geräumt oder gesplittet. Zuerst würden natürlich die Autostraßen von Schnee befreit bevor sich der Räumdienst um die Wanderwege kümmere. Sie könne nicht sagen, wie es momentan aussehe auf dem Rundweg um den Faulensee. Nur eins könne sie uns sagen, dass nämlich das Ausflugslokal am Faulensee heute geschlossen habe. Dort könne man nur von Donnerstag bis Sonntag einkehren. Und noch etwas: Ganz sicher würden wir die Nummer 4, mit der unser Rundweg in der Winterwegekarte bezeichnet sei, nicht wiederfinden auf der Beschilderung unterwegs. Wir müssten einfach immer schauen, welches das nächste angezeigte Ziel auf den Wegweisern sei. Wir fühlen uns ein wenig verunsichert und fotografieren sicherheitshalber den Rundweg auf dem detaillierten Wegeplan des Touristenbüros.
Wir beschließen, die Hopfen-Faulesee-Wanderung zu wagen. Gleich hinter der Touristeninformation geht es schräg den Berg hinauf. Schon nach kurzer Zeit stoßen wir auf die ersten Hinweisschilder. Die Winterwanderwege sind mit pinkfarbenen Schildern bezeichnet. Die Bezeichnungen stimmen nur leider nicht mit denen aus unserer Broschüre überein. Wir stören uns nicht daran und wählen, wie man es uns geraten hat, eines der Ziele aus, das auf unserem Weg liegt. Wir konzentrieren uns auf den Faulensee und das Koppenkreuz, das wir noch vorher erreichen sollen. Endlich lassen wir die letzte Ortschaft, nämlich Enzensberg mit seiner Fachklinik, hinter uns und treten in eine flachhügelige von Tannenwäldern gesäumte Landschaft ein. Auf einer Weide, die nur zurzeit diesen Namen nicht verdient, bewegen sich zwei schwarze schlanke Pferde gemächlich hin und her. Es ist so leise hier, so wunderbar still. Nur das Knirschen unserer Schritte ist zu hören und entfernt das Tuten des Bähnchens, das wir in Hopfen ständig hören. Längst wollten wir klären, was das für eine Bahnverbindung ist, die jenseits des Hopfensees entlangführt. Morgen werden wir im Touristenbüro danach fragen. Vielleicht gibt es einen schönen Namen für diese Eisenbahn. Wir nennen sie vorläufig „der rasende Roland“. Immerfort denke ich an neue Vorhaben, neue Recherchen, Dinge, denen wir noch nachgehen könnten. Wäre es nicht schön, sich einfach nur dieser Stille der Schneelandschaft hinzugeben? Einfach einmal nichts denken. Nichts tun. Schon dreht sich das Karussell der Gedanken weiter. Ist es wirklich besser, nichts zu tun? Warum denn? Johannes fragt mich, worüber ich denn mit meiner Schwester reden würde, wäre sie jetzt hier bei mir auf dieser Wanderung. Er weiß, dass wir zwei Schwestern ständig miteinander philosophieren. Ich antworte, dass wir vielleicht darüber nachdenken würden, ob es wichtiger sei, sich mit Erlebnissen anzufüllen als sich durch Meditation in einen Zustand innerer Ruhe und Ausgeglichenheit zu versetzen. Das sind Fragen, die mich tatsächlich zurzeit beschäftigen.
Der Weg führt inzwischen nicht mehr weiter bergauf. Es lässt sich sehr gut laufen auf dem lockeren frisch gefallenen Schnee, durch den vor uns auch schon einige andere Wanderer heute gegangen sind. An den hohen Schneewällen rechts und links des breit ausgetretenen Weges erkennen wir, dass hier offensichtlich von Zeit zu Zeit der Schnee geräumt wird. Wir wandern jetzt schweigend weiter durch die fallenden Flocken. Einmal kommt uns ein Paar mit Kind in einer Rückentrage entgegen. Das Kind weint bitterlich. Die Eltern marschieren unbeirrt weiter. Sie grüßen uns mit „Hallo“. An einer Weggabelung studieren wir wieder die Hinweisschilder. Wir wundern uns, dass das Koppenkreuz gar nicht mehr erwähnt wird. Sind wir denn schon daran vorbeigegangen? Ich hatte es für einen Berggipfel gehalten, weil in unserer Karte der Name mit einer Höhenangabe versehen ist (916 m). Wir schauen uns suchend um nach einer Bergspitze und sehen plötzlich ein großes Wegkreuz im Zentrum eines Ensembles von drei hohen Fichten auf einer Lichtung. Das wird das Koppenkreuz sein. Ich versuche näher heran zu gehen, um den Namen des Kreuzes lesen zu können und merke sofort, dass man nicht vom Wege abkommen sollte. Mein Fuß sinkt tief ein in den gefrorenen Altschnee.
An der Gabelung geht es jetzt nach rechts weiter in Richtung Faulensee. Wir kommen immer mehr dahinter, dass die pinkfarbenen Wegweiser für unseren Rundweg nie in unsere Marschrichtung zeigen, sondern immer in die Gegenrichtung. Offensichtlich ist es vorgesehen, diesen Rundweg linksherum zu wandern. Wir halten uns weiter an den Tipp der Dame vom Touristenbüro. Nach etwa 10 Minuten sehen wir rechts das Ausflugslokal „Rainis Faulenseehütte“, von dem wir schon wissen, dass es heute geschlossen hat. Auf einer Fläche neben dem Lokal sehe ich einige Holzbalken zum Anbinden von Pferden oder Fahrrädern, bei denen an der Seite eine Schrifttafel angebracht ist. Ich vermute, dass es sich wieder um Kneippsche Objekte handelt, vielleicht Gedankenbalken. Ich möchte die Texte gerne lesen und marschiere ohne nachzudenken auf die Balken zu. Nach dem ersten Schritt schon stecke ich mit dem rechten Bein 50 cm tief im verharschten Altschnee fest. Die Weisheiten auf den Texttafeln werden mir leider verborgen bleiben müssen.
Der Rundwanderweg führt jetzt wieder nach rechts und folgt ein langes Stück dem Ufer des zugefrorenen Faulensees. Hier ist nur noch eine schmale Spur zum Laufen vorhanden. Es passt immer nur ein Fuß vor den anderen. Häufig kommen uns Leute entgegen, was uns nicht wundert, weil wir ja den Rundweg verkehrt herum laufen. Es ist fast gar nicht möglich, sich gegenseitig auszuweichen in der schmalen Spur. Jetzt endlich wird offensichtlich, wozu Schneeschuhe nützlich sind, diese kurzskiähnlichen Laufhilfen zum Unterschnallen. Ein entgegenkommendes Paar führt uns stolz vor, wozu diese Sportgeräte taugen. Die beiden weichen einfach auf die hohe Schneeschicht am Wegesrand aus ohne einzusinken. Wir bedanken uns und setzen unsere Wanderung fort.
Wir sind jetzt schon zwei Stunden unterwegs und der Wegweiser sagt, dass es bis Hopfen noch 30 Minuten zu laufen sind. Die Touristikdame hatte ganz recht mit ihrer Einschätzung der eindreiviertel Stunden als „sportlich“. Wir spüren allmählich schon eine gewisse Erschöpfung aufkommen. Das Laufen im Schnee ist sehr viel anstrengender als auf Waldwegen ohne Schnee. Zur Stärkung genehmigen wir uns einen der selbstgebackenen Müsliriegel von Bäcker Feneberg. Sie schmecken fantastisch und sättigen gut. Schon bald erblicken wir das hohe Bettengebäude der Enzensberger Klinik. Ich muss an Hans Magnus Enzensberger denken und sein Buch „Der Zahlenteufel“, das ich ganz großartig finde. Dass es einem Nichtmathematiker gelungen ist, die herrlichsten Überraschungen im Zauberland der Mathematik für Kinder so unterhaltsam in eine spannende Geschichte zu gießen, erfüllt mich mit großer Hochachtung. Von nun an gehen wir auf geräumten Bürgersteigen. Allerdings schleppen wir uns inzwischen mehr dahin, als dass wir gehen. Zum Glück geht es nur noch bergab. Der Himmel lichtet sich ein wenig. Von Zeit zu Zeit zeichnet sich über der Wolkendecke ein blass leuchtender Kreis ab. Vielleicht scheint ja morgen die Sonne. Das wäre schön.
Alice, du hast es genau erfasst, worüber ich mit dir in dieser stillen Schneewelt philosophiert hätte! 🙂
Dass man nicht einmal seinen Kopf so weiß wie Schnee sein lassen kann!