Nach dem Besuch der Teppichknüpferei steigen wir alle wieder in den blauen Bus ein. Wir erwarten, dass es weitergeht in die Altstadt von Famagusta. Aber Selim, unser Reiseleiter, kündigt uns eine Überraschung an. Wir werden die Geisterstadt Varosha besuchen. Das ist im Programm des heutigen Tages nicht vorgesehen, weil es sehr schwierig ist, eine Genehmigung für den Besuch von Varosha zu bekommen. Selim ist es aber gelungen, für heute eine Genehmigung zu erhalten. Die erlaubt uns natürlich nicht, in die Stadt hineinzufahren. Aber bis an den Stacheldraht heran dürfen wir uns bewegen. Selim schärft uns mit großer Dringlichkeit ein, dass wir auf keinen Fall fotografieren dürfen dort. Dann erklärt er uns, was es auf sich hat mit der verlassenen Stadt.
Varosha war in den 70er Jahren der angesagteste Badeort der Jet-Society wie heute vielleicht Marbella oder die Malediven. Man nannte Varosha die Cote d’Azur Zyperns. Zu seinen Besuchern zählten u.a. Sophia Loren, Elisabeth Taylor, Antony Quinn, die Beatles, die englische Königsfamilie sowie Katharine Hepburn und Audrey Hepburn. In Varosha gab es den feinsten Sand, das wärmste und klarste Wasser und den blauesten Himmel von ganz Zypern. Riesige Hotels standen direkt am Strand und boten Meeresblick. Hunderte Bars und Restaurants sorgten für vergnügliche Abende, tausende Läden luden zum Shoppen ein. Es gab zahlreiche Banken, Theater, Kinos. Der Badeort pulsierte und erwirtschaftete mehr als die Hälfte der Gesamteinnahmen der Tourismusbranche der gesamten Insel. Dann marschierten 1974 die türkischen Truppen in Nordzypern ein. Zehntausende Menschen flüchteten aus Varosha. Das ehemalige Urlaubsparadies wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt und mit Stacheldraht umzäunt.
Varosha liegt am Stadtrand von Famagusta und wir fahren nicht lange bis sich uns rechts durch die Busfenster die verfallenden Gebäude der ehemaligen Touristenhochburg präsentieren. Die fensterlosen Löcher in den hohen Häuserfassaden blicken uns an wie Totenkopfaugen. Gespenstisch wirkt die verlassene Stadt. Wir wagen es nicht, unsere Handys hervorzuholen und die Eindrücke festzuhalten. Der Bus fährt ganz nah heran an den kilometerlangen Strand aus weißem Sand. Wir steigen aus. Selim schildert uns noch einmal eindrücklich, was geschieht, wenn einer von uns seinen Fotoapparat zücken sollte. Es würde auf der Stelle jemand aus den Wachtürmen hinter dem Stacheldraht herunterkommen und die Fotoapparate unserer gesamten Reisegruppe einkassieren. Wir wandern den traumhaften Strand entlang. Überall sieht man Reste von privaten Feiern im feinen Strandsand herumliegen: leere Flaschen, Asche von Lagerfeuern, Lebensmittelverpackungen. Selim erklärt uns, dass die jungen Leute gerne abends hierher kämen und feierten. Wir wandern weiter bis zum Stacheldraht. Von hier aus hat man die ideale Panoramaansicht auf die verlassene Stadt. Entlang der lang gestreckten Bucht reiht sich ein Hotelhochhaus ans andere, verfallen, fensterlos, leer. Ein wahres Trauerspiel.
Warum hat man diese Touristenhochburg nicht erhalten? Warum tut sich hier seit über vierzig Jahren nichts? Warum baut man Varosha nicht wieder auf? Diese Fragen drängen sich uns auf. Selim erklärt uns, dass es durchaus Versuche gegeben hat, die Stadt wieder zu beleben. Das sei jedes Mal an unterschiedlichen Machtinteressen gescheitert. Auch die Wiedervereinigung des griechisch-zypriotischen Südens mit dem türkisch-zypriotischen Norden der Insel scheitere daran. Es habe einen Plan der Vereinten Nationen zur Wiedervereinigung der beiden Inselteile gegeben, der maßgeblich auf den damaligen Generalsekretär Kofi Annan zurückgehe. Der Plan sei gescheitert, weil sich 2004 bei einem Referendum die Zyperngriechen mehrheitlich gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen hätten, während die Zyperntürken dafür gestimmt hätten. Selim hält es für einen Fehler, dass die EU den Beitritt der Republik Zypern zur EU im Jahre 2004 nicht an die Bedingung einer Wiedervereinigung geknüpft habe.
An diesem gruseligen Ort im Sperrgebiet zwischen den zwei getrennten Inselteilen geht uns Besuchern die Tragik der Entzweiung der beiden Volksgruppen besonders nahe. Wäre es doch nur möglich, sie wieder zu versöhnen und die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben wieder herzustellen.
Ein kleiner Hinweis für meine verehrten Leser: Die Fortsetzung des Reiseberichts folgt diesmal erst übermorgen, am 28.01.2019.