Montag, der 5.3.2018
Auf 7:25 Uhr ist die Abfahrt zum heutigen Tagesprogramm angesetzt. Und da wir von jetzt an in Girne (griechisch Kyrénia) wohnen werden, müssen wir auch schon unsere Koffer fertig gepackt mitbringen und die Formalitäten im Hotel erledigt haben. Unser erstes Ziel heute ist eine Teppichknüpferei in der Freihandelszone des Hafens von Famagusta. Die Stadt ist schon in früheren Zeiten ein wichtiger Warenumschlagsplatz gewesen und ist es noch bis heute. Früher kamen die Orientteppiche aus über 100 Regionen hierher, um von hier aus exportiert zu werden. Heute sind es noch 36 Regionen.
Wir werden sehr freundlich empfangen in der Teppichknüpferei. Ein hervorragend Deutsch sprechender Zypriot in Anzug und Krawatte stellt sich uns mit seinem Vornamen vor. Er heißt „Mustafa“. Er führt uns in einen großen Raum, an dessen Wänden ringsherum gepolsterte Bänke aufgestellt sind. Über den Bänken hängen wertvolle Wandteppiche aus. Die Bänke bieten fast für alle 46 Personen unserer Reisegruppe Platz. Für die etwas beleibte Dame „us Kölle“ wird eigens eine zusätzliche Bank hereingetragen. Dort sitzt sie mitten im Raum ein wenig exponiert, was ihr aber nichts auszumachen scheint. Mustafa beginnt mit einem interessanten Vortrag über die verschiedenen Arten der „Armenier“, über das Färben der Schafswolle mit Pflanzenfarben, über Seidenteppiche, an deren Herstellung jahrelang gearbeitet wird.
Plötzlich öffnet sich die Tür und von mehreren Mitarbeitern werden auf großen Tabletts mit heißem Tee gefüllte Gläschen hereingebracht, die an uns Zuhörer verteilt werden. Zu jedem Gläschen gibt es ein kleines Löffelchen, mit dem sich jeder nach Belieben mit Zucker aus einer dargereichten Zuckerdose bedient. Alsbald ist der Raum vom Klimpern der 46 Löffelchen in 46 Gläschen erfüllt. Mustafa erzählt, dass es Leute gebe, die den Tee ablehnen. Sie glauben, es seien verkaufsfördernde Mittel darin enthalten. Wir glauben etwas ganz Vergleichbares, dass nämlich diese gastgeberische Geste der Verkaufsförderung dient. Mustafa fährt fort mit seiner humorgewürzten Rede. Die Teppiche kaufe man sich für die Seele. Laufe man darüber, werde die Seele leichter. Natürlich werde auch der Geldbeutel leichter. Es wird ein Wandteppich hereingebracht, ein Sammlerstück, eine Lupenarbeit, die 1056 Doppelknoten pro Quadratzentimeter aufweist. Er wird herumgetragen. Wir dürfen ihn alle einmal befühlen und seine filigranen Ornamente von Nahem bewundern. Sein Wert beträgt fast 100.000 Euro. Mustafa erklärt uns, man dürfe den Preis nicht mit dem Preis für einen Mercedes vergleichen. Das mache man ja mit einem Monet auch nicht.
Wieder öffnet sich die Tür. Im Laufschritt eilen vier Mitarbeiter mit je einem aufgerollten „Armenier“ in die vier Ecken des Raumes und entrollen ihn gleichzeitig auf den Boden. Es sind handgeknüpfte Teppiche aus reiner Wolle. Ein leuchtendes Rot ist dominant. Wir lassen uns faszinieren von der Pracht der Farben und Muster. Und schon rennen die vier wieder hinaus und kommen mit neuen Teppichen aus unterschiedlichen Herkunftsländern zurück, die wieder eilfertig an vier ausgewählten Stellen des Raumes ausgebreitet werden. Immer mehr Teppichschichten lagern schließlich übereinander. Es befremdet uns Zuschauer, dass Mustafa immer wieder den ein oder anderen seiner Leute ungeduldig anherrscht, weil er seinen Teppich nicht mustergültig platziert. Unser Augenmerk wird auf einen 2 mal 3 Meter großen handgeknüpften Milas gerichtet. Wir sollen den Preis schätzen. Nach allen Zahlen, die bisher so im Raum gestanden hatten, glauben die meisten von uns, dass er mehrere Tausend Euro wert ist. Er soll aber nur 950 Euro kosten. Er sei nicht so fein geknüpft, heißt es. Jeder Knoten mache einen Preisunterschied. In mir regt sich der Verdacht, dass wir hier psychologisch geschickt schon auf ein hohes Preisniveau eingestimmt werden sollen.
Zu guter Letzt werden wir aufgefordert, die ausliegenden Teppiche zu betreten. „Sollten Sie Angst um Ihre nagelneuen Schuhe haben, dürfen Sie sie gerne ausziehen. Sollten Sie sie anlassen wollen: Die Teppiche leiden nicht.“ Die Vorstellung ist zu Ende. Es wird noch um einen Applaus für die „Teppichöffner“ gebeten, die sich devot verbeugen und im Eilschritt den Raum verlassen. Dann betreten etwa 25 neue Mitarbeiter in feinen Anzügen den Raum. Die sollen uns bei unserem nun folgenden Rundgang durch die Teppichausstellung beratend zur Seite stehen und alle unsere Fragen beantworten.
Einer dieser Herren, ein junger Mann, begleitet mich und möchte von mir wissen, welche Teppiche mir denn am besten gefallen hätten. Auch er spricht sehr gut Deutsch. Ich gebe gleich zu bedenken, dass ich nicht vorhätte, einen Teppich zu kaufen. Mein Begleiter gibt sich erstaunt und hält es gar nicht für möglich, dass ich meiner Seele eine solche Wohltat vorenthalten möchte. Dann will er noch einmal wissen, was mir denn abgesehen davon grundsätzlich gefallen würde. Ich erwähne ein Muster, das sog. Feldmotiv, das mich angesprochen hätte. Sofort hat mein Begleiter eine Vision von dem ultimativen Teppich für meinen Geschmack. Er führt mich zuerst in den einen der unzähligen Ausstellungsräume, dann in den nächsten und so fort. Ich muss mich zu jedem der vorgestellten Objekte äußern und fühle mich zunehmend geschwächt. Am Ende setze ich mich mit letzter Kraft doch gegen eine Flut an überzeugenden Gegenargumenten durch und erkläre endgültig, dass ich keinen Teppich kaufen werde. Mein Begleiter lässt enttäuscht von mir ab und ich wende mich zum Gehen. Ich fühle mich schlecht dem jungen Mann gegenüber, der so ganz ohne Erfolg sein Bestes gegeben hat. Draußen wartet Johannes schon auf mich. Er hatte überhaupt keine Mühe gehabt, sich völlig unbegleitet umzuschauen in der Ausstellung. Ich verstehe das nicht.
Dein Text enthält wieder sehr viele Fakten, die Du sehr detailliert und humorvoll beschreibst. Mein Kommentar zu den letzten beiden Sätzen: Der junge Mann glaubte anscheinend, dass Frauen leichter als Männer zum Kaufen überredet werden können.