Der Engel von Alkenrath

Der Tag beginnt sehr vielversprechend mit wolkenlosem Himmel. Am Nachmittag soll es sich zwar zuziehen und am Abend sogar regnen, aber wir lassen uns nicht beirren und starten zu einer spontanen Radtour. Johannes hatte die Idee. Er muss einmal auf andere Gedanken kommen. Seit seiner traumatischen Atemnoterlebnisse grübelt er sehr viel über den Tod und den Sinn des Lebens.

Obwohl der Rundweg  von Köln-Brück über Köln-Mülheim und Leverkusen zurück nach Brück, den wir uns ausgedacht haben, kaum Höhenunterschiede aufweist, fahren wir doch mit den E-Bikes. Johannes sollte sich noch etwas schonen und sich nicht überanstrengen. Den ersten Abschnitt bildet eine schöne Strecke mit äußerst wenig Autoverkehr, vorbei an Feldern, Wiesen, Schrebergärten und Parks von Brück nach Mülheim. An der KVB-Haltestelle Brück-Flehbachstraße starten wir die Tour. Wir überqueren die Bahnschienen und radeln auf einem Feldweg am Flehbach entlang. Rechts von uns liegt ein gerade gemähtes Kornfeld. Eine wunderbare Idylle, hätte man nicht die Geräusche der A4 im Ohr, die hinter dem Feld abgeschirmt durch eine Lärmschutzwand entlangführt. Es gelingt uns aber erfolgreich, die Geräuschkulisse auszublenden. Nach einer Weile stoßen wir auf die Broichstraße und folgen ihr nach rechts bis sie auf die Ostmerheimer Straße trifft, wo wir wieder nach rechts abbiegen. Nach einer langgestreckten Linkskurve, die auf der rechten Seite gesäumt ist von gemähten Kornfeldern, wenden wir uns nach links in den Schlagbaumsweg. Dem folgen wir bis zu der Brücke über die A3. Kurz vor der Brücke geht es nach rechts in eine Straße, die für Autos als Sackgasse ausgewiesen ist. Sie führt zuerst an Tennisplätzen vorbei, dann durch einen kleinen Park bis wir auf die Wichheimer Straße stoßen, der wir nach links auf eine Brücke über die A3 folgen. Wir überqueren bald darauf den Herler Ring und fahren ein wenig nach rechts versetzt weiter auf der Wichheimer Straße bis diese an der Bergisch Gladbacher Straße endet. Wir fahren auf dieser verkehrsreichen Straße nur ein kleines Stück nach links weiter bis wir zwei große Bahnunterführungen hinter uns gebracht haben und biegen dann nach rechts in die Carlswerkstraße und gleich wieder links in die Holweider Straße. Nach wenigen Minuten wenden wir uns nach rechts in die Keupstraße, der wir lange über mehrere große Querstraßen folgen bis sie nach der Überquerung der Mülheimer Freiheit in die Düsseldorfer Straße übergeht. Sehr bald schon geht nach links eine Privatstraße ab, die direkt auf den Rheinradweg führt. Am Ende sind nur einige flache Stufen nach unten zu überwinden. 25 Minuten hat die Fahrt bis hierher gedauert.

Die herrlich lebendige Keupstraße in Köln-Mülheim

Der Rheinradweg verläuft in einer langgestreckten Linkskurve ganz nah am Ufer des Rheins entlang. Überall sind Bänke aufgestellt, die zu einem kleinen Aufenthalt einladen. Wir setzen uns dort hin und genießen den Ausblick. Links schauen wir auf die Mülheimer Brücke und den Dom, gegenüber liegt malerisch der breite Strand des Riehler Rheinufers und rechts breitet sich der Rhein in einer großen Linkskurve zu einer riesigen das Sonnenlicht reflektierenden Wasserfläche aus. Eigentlich könnten wir den ganzen Tag hier sitzen bleiben. So schön ist es. Doch schon bald zieht es uns weiter. Wir sind gespannt auf den Rundweg, den wir uns ausgedacht haben.

Blick nach links von Mühlheim, Rheinradweg
Blick nach rechts von Mülheim, Rheinradweg

Nach der langen Linkskurve geht der Fahrradweg nicht mehr direkt am Fluss entlang. Der Weg verläuft jetzt auf einem Damm weiter, der links und rechts von Wiesen und Wäldchen gesäumt ist. Nach einer Weile weist uns ein Schild nach rechts in Richtung Leverkusen. Immer geradeaus fahren wir auf der Roggendorfstraße durch Flittard hindurch bis die Häuserreihen enden. Hier wendet sich die Straße leicht nach rechts, während der Fahrradweg halb links durch einen kleinen Park führt und schließlich an der verkehrsreichen B8 endet. Es führt leider kein Weg daran vorbei, hier links abzubiegen. Die Straße ist von einem breiten Fahrradweg für beide Fahrtrichtungen gesäumt. Ein langes Stück sind wir dem Straßenlärm ausgesetzt bis wir schließlich am Ludwig-Erhard-Platz ankommen, wo sich das Gesundheitshaus befindet mit seiner Radiologie 360°, die ich von einem Termin vor langer Zeit kenne. Ich halte das Gesundheitshaus für eine gute Adresse, um dort einmal die Toilette aufzusuchen. Wie sich herausstellt, ist es allerdings nicht so leicht wie ich mir das vorgestellt hatte. Es gibt zwar in der ersten Etage eine Besuchertoilette. Die aber ist abgeschlossen und man erfährt auch nicht, wo man den Schlüssel bekommt. Auf derselben Etage befindet sich auch eine gynäkologische Praxis. Dort frage ich nach dem Schlüssel für die Besuchertoilette. Die Dame hinter dem Tresen ist leider überfragt. Sie erkundigt sich bei einer Kollegin, die auch nicht Bescheid weiß. Statt dass man mir netterweise gestattet, die Toilette der Praxis zu benutzen, wird weiter nach dem Schlüssel recherchiert. Die Ärztin endlich weiß, wo sich der Schlüssel befindet. Man händigt ihn mir mit einer eindringlichen Ermahnung aus, ihn hinterher wieder zurück zu bringen. Ich versichere, dass ich das natürlich tun werde und begebe mich zu der Besuchertoilette mit einer wachsenden Freude an der Vorstellung, den Schlüssel nach der Toilettenbenutzung einfach mit hinunter zu spülen. Natürlich mache ich das nicht.

Wir setzen die Fahrradtour in nördliche Richtung fort. Wir wollen an der Dhünn entlang bis zum Schloss Morsbroich fahren. Wir stellen uns vor, dass man dort vielleicht schön zu Mittag essen kann. Die Innenstadt von Leverkusen, durch die uns unser Weg nach Norden führt, ist äußerst unübersichtlich. Schließlich können wir die Autostraße mit dem Rad gar nicht mehr benutzen. Über kreuz und quer laufende hohe Brückenkonstruktionen lavieren wir uns irgendwie in eine nördliche Richtung. Schließlich sehen wir rechts einen großen einladenden Park, den Leverkusener Stadtpark. Dort retten wir uns hinein und stoßen wie von selbst bald auf die Dhünn. Ihr folgen wir lange nach rechts auf einem idyllischen Weg durch den Park bis wir am Ende von einer ärgerlichen Spaziergängerin erfahren, dass es sich nicht um einen Radweg handele. Wir versuchen weiter der Dhünn zu folgen, zunächst über die Elsa-Brändström-Straße, später entlang der Straße Schlebuschrath, die wir irgendwann aus einem intuitiven Orientierungssinn heraus nach rechts verlassen. Schließlich landen wir auf der stark befahrenen Gustav-Heinemann-Straße, um dort festzustellen, dass Johannes fast keine Luft mehr in seinem Hinterrad hat. Die Räder sind erst zwei Jahre alt. Wer konnte ahnen, dass so eine Panne passiert. Wir haben keine Luftpumpe bei uns. Es ist jetzt ungefähr halb zwei. Die Schule ist wohl gerade aus. Eine Gruppe von etwa sieben Jugendlichen kommt an uns vorbei. Einer von den Jungs fährt ein Fahrrad. Die jungen Leute fragen uns, ob sie uns helfen können. Zuerst lassen wir uns erklären, wo das Schloss Morsbroich ist. Davon sind wir zum Glück gar nicht weit entfernt. Wir hätten uns nur nach links wenden sollen an der Gustav-Heinemann-Straße und nicht nach rechts wie Johannes Navi es vorschlug. Dann äußern wir kleinlaut, dass Johannes Hinterrad Luft verliert und wir keine Luftpunpe haben. Der junge Mann mit dem Fahrrad demontiert sogleich die Luftpunpe von seinem Rad und lässt es sich nicht nehmen, Johannes Rad wieder mit Luft zu versorgen. Spaßeshalber meint er, das koste jetzt 10 Euro. Ich will ihm tatsächlich etwas geben als Dankeschön. Das lehnt er aber vehement ab.

Nach dieser schönen Begegnung radeln wir beschwingt in Richtung Schloss Morsbroich. Als wir den Parkplatz erreichen, sehen wir weit und breit kein Schloss und wenden uns zunächst nach rechts, was total falsch ist. Eine Passantin schickt uns zurück zum Parkplatz. Jetzt sehen wir die Hinweisschilder zum Museum Morsbroich. Von einem Schloss ist immer noch nirgends die Rede. An der Rezeption des Museums fragen wir zuallererst nach einer Einkehrmöglichkeit zum Mittagessen. Die Dame an der Ticketkasse teilt uns bedauernd mit, dass das Restaurant momentan leider geschlossen habe. Sie empfiehlt uns noch ein Stück weiter nach rechts in Richtung Schlebusch zu fahren. Dort gebe es mehrere Restaurants.

Wir folgen der Richtung, die sie uns gezeigt hat, landen allerdings nicht in Schlebusch, sondern in Alkenrath. Inzwischen ist es halb drei. Wir befürchten, nichts mehr zu essen zu bekommen. Aber im Steakhaus Angus ist man bereit, uns fast jeden Wunsch zu erfüllen, obwohl wir die einzigen Gäste sind.

Steakhaus Angus in Leverkusen-Alkenrath

Wir sitzen auf der Restaurantterrasse sehr schön in der Sonne, die entgegen allen Vorhersagen immer noch scheint. Die Alkenrather Straße ist zwar kolossal befahren und sehr laut, wir blenden die Geräusche aber einfach aus. Der Zander, den wir uns aus der Karte ausgesucht haben, ist leider erst am Abend verfügbar. Wir bestellen etwas anderes, das auch sehr lecker schmeckt. Als wir schließlich bezahlen, erzählen wir dem Kellner von unserem Problem mit der Luft in Johannes Hinterrad. Der beschreibt uns einen abgekürzten Weg nach Schlebusch, wo es ein Fahrradgeschäft gebe. Dort könnten wir eine Luftpumpe kaufen. Aber wir sollten unbedingt zuerst den Schuster auf der anderen Straßenseite aufsuchen. Der sei total hilfsbereit und könne eigentlich alles.

Leverkusen-Alkenrath, hier wird Dir geholfen!

Wir betreten den Schusterladen und gleich erscheint hinter seinem Tresen ein höchst sympathischer Mann mittleren Alters. Er hört sich unser Anliegen an, schnappt sich seine elektrische Luftpumpe und kommt hinter dem Ladentisch hervor. Er pumpt in Sekundenschnelle das Rad auf und beobachtet, ob die Luft hält. Er wartet nicht lange, sondern entschließt sich kurzerhand, das Rad umzudrehen, wobei wir ihm zur Hand gehen. Dann hebelt er gekonnt das Hinterrad aus der komplizierten Verzahnung mit der Gangschaltung heraus und nimmt es mit hinter den Ladentisch. Dort entfernt er den Reifen und den Schlauch von der Felge und lässt eine Schüssel mit Wasser volllaufen. Dann taucht er den Schlauch in das Wasserbad und sucht das Loch. Das ist schnell gefunden. Leider findet unser hilfsbereiter Schuster keinen Flicken für Fahrradschläuche in seinen Materialien. Ersatzweise versucht er es mit einem stark klebenden Reparaturflicken. Mit dem professionellen Schusterwerkzeug wird die Stelle um das Loch herum zuerst angeraut, dann wird der Reifen ein wenig mit Luft gefüllt und schließlich der Flicken aufgeklebt. Er hält nicht. Unser Freund hilft mit Sekundenkleber nach. Nach einer kurzen Zeit des Wartens wird der Schlauch ganz vollgepumpt. Er sieht irgendwie seltsam gequetscht aus an der reparierten Stelle. Aber das macht sicher nichts für unsere Weiterfahrt. Zur Kontrolle wird der Schlauch wieder in das Wasserbad getaucht. Es steigt kein Bläschen mehr auf. Wir fühlen uns sehr erleichtert. Jetzt können wir die Fahrradtour bald fortsetzen. Es ist inzwischen schon 16 Uhr und bis wir zu Hause sind, wird sicherlich noch mehr als eine Stunde vergehen.

Der freundliche Schuster zieht sicherheitshalber noch den Rest des Schlauches durch das Wasserbad und zu unserem Schrecken zeigt sich, dass es noch ein Loch gibt. Oh je. Noch einmal dieselbe Prozedur. Noch einmal die Suche nach einem normalen Flicken, wieder muss dieses Monstrum von einem stark klebenden Lappen verwendet werden. Irgendwann ist es wieder so weit, dass der Schlauch voll aufgepumpt wird. Wie sieht der denn jetzt aus? Wie eine schlecht gepresste Wurst mit Wellen. Der Test im Wasserbad ist ernüchternd. Noch ein Loch! Jetzt endlich verliert auch unser großartiger Erretter den Mut. Er fragt, ob einer von uns vielleicht zu Philipps Sonderposten fahren könnte. Dort bekämen wir sicherlich einen neuen Schlauch. Es müsse ein Schlauch der Größe 28 sein. Ich erkläre mich sofort bereit, dorthin zu fahren. Johannes ist schon längst überstrapaziert in seiner Rekonvaleszenz. Wir googeln kurz, dass der Betrieb im Bürgerbuschweg 9 angesiedelt ist. Ich radele mit dem E-Bike in Höchstgeschwindigkeit dorthin. Es geht sieben Minuten lang an der Schlehbuscher Straße entlang. Dann würde es eigentlich nach recht abgehen in den Bürgerbuschweg. Die Straße ist gesperrt. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Ich biege trotzdem hinein in die Straße. Sofort stoße ich auf eine riesige Baustelle, die jedem Auto die Weiterfahrt versperrt, nicht aber meinem Fahrrad.

Leverkusen-Alkenrath
Freundliche Bauarbeiter im Bürgerbuschweg, Leverkusen-Alkenrath

Ich passiere die Baustelle und finde den Bedarfsmarkt Philipps, einen riesigen Laden, der alles und jedes verkauft. Wie soll ich hier nur je einen Fahrradschlauch finden? Ich eile orientierungslos durch die zahllosen Regalreihen bis ich glücklicherweise einem Mitarbeiter von Philipps über den Weg laufe. Er begleitet mich netterweise zu den Fahrradschläuchen. Die Größe 28 Zoll ist leider nicht vorhanden. In diesem Moment empfange ich von Johannes eine Nachricht, dass notfalls auch die Größe 26 funktionieren würde. Der Verkäufer zeigt mir noch besondere Fahrradschläuche, die selbstreparierend sind. Von dieser Sorte gibt es auch die Größe 28. Ich entscheide mich blitzschnell, einen solchen Schlauch mitzunehmen und auch einen normalen Schlauch in 26 Zoll. Ich rase zurück.

Der neue Schlauch wird von unserem Helfer umgehend eingezogen, das Rad montiert, das Fahrrad wieder auf die Füße gestellt. „Was sind wir Ihnen schuldig?“ „Nichts!“ Wir sind fassungslos. Zum Glück gibt es eine kleine Sparbüchse in Form eines Schnürschuhs auf dem Tresen. Ich stecke einen 10-Euro-Schein hinein. Das kommt mir angesichts der großartigen und selbstlosen Hilfsbereitschaft unseres Freundes zwar völlig unangemessen vor, aber gerade auch wegen seines selbstlosen Wesens möchte ich auf keinen Fall zu viel in die Dose stecken, um ihn nicht zu beschämen.

Zum Abschied bitte ich ihn, ein Foto von ihm machen zu dürfen. „Nur, wenn Ihr Mann auch mit auf dem Bild ist.“ Mit der Veröffentlichung in meinem Blog ist er einverstanden.

Der Engel von Alkenrath

Inzwischen ist es halb fünf und wir sind sehr sehnsüchtig nach unserem Zuhause. Wir schalten die Handynavigation von Johannes ein, mit der wir schon gute Erfahrungen gemacht haben. Die führt uns zuerst durch einen Park zur Mühlheimer Straße, die stark befahren ist. Nach kurzer Zeit aber schon werden wir rechts in einen Wald hinein geleitet, in dem wir kilometerlang weiterfahren bis wir schließlich in Dellbrück herauskommen, wo es auf der Dellbrücker Hauptstraße weitergeht. Von hier aus kennen wir den Weg. Er führt über den Dellbrücker Mauspfad, der in den Brücker Mauspfad übergeht, wieder zurück nach Köln Brück.

Zu Hause angekommen scheint immer noch wärmend die Sonne und wir lassen uns erschöpft auf unsere Gartenliegen fallen, um den hindernisreichen Ausflugstag ausklingen zu lassen.

Ein Gedanke zu „Der Engel von Alkenrath

  1. Liebe Alice, hoch interessiert habe ich Eure Alkenrathtour gelesen, wohnen wir doch ca. 3km von diesem liebenswerten Schuster entfernt. Sehr viele Deiner beschriebenen Ecken sind mir bekannt.
    Ich glaube, ich habe mich etwas in Deinen wunderbaren Schreibstil verliebt und macht mich hungrig auf mehr.
    Lieben Gruß von mir

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